Neomarxismus ist eine neue Form des Marxismus (Kommunismus), der sehr stark soziologische und psychologische Theorien (insbesondere die >Psychoanalyse von Sigmund >Freud) mit einbezieht. Der N. wurde insbesondere entwickelt von den Sozialphilosophen der Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen >Habermas) und seit den Jahren der 68-Studentenrevolution in vielen Staaten gesellschaftlich umgesetzt (im von Rudi Dutschke ausgerufenen "langen Marsch durch die Institutionen" bis hinauf zu Spitzenämtern in Politik, Wirtschaft, Rechtsprechung, Massenmedien und Kirchen). Man bezeichnet seine Vertreter auch als "Neue Linke".
Karl Marx ("Kommunistisches Manifest") und der Marxismus lehrten: Durch Ausbeutung der Arbeiter, durch Akkumulation und Zentralisation des Kapitals wird die kleine, besitzende Klasse der Kapitalisten immer reicher, während die Masse der Arbeiter, das Proletariat, verelendet und seiner Arbeit entfremdet wird. Die innere Dialektik zwischen Arbeit und Besitzbildung treibt zu Klassenkampf und Revolution (Dialektischer Materialismus). Subjekt der Revolution ist die Arbeiterschaft. Sie wird zum Totengräber des Besitzbürgertums und Begründer einer freien, klassenlosen Gesellschaft, in der der Kampf ums Dasein beendet ist.
Diese Voraussetzungen einer Revolution treffen jedoch heute nicht mehr zu und haben laut Jürgen >Habermas ("Theorie und Praxis" u. a.) schon zur Zeit von Marx nicht zugetroffen. Nach Habermas ist Marx' materialistische Geschichtsphilosophie wegen ihrer ontologischen und metaphysischen Voraussetzungen noch zu stark von der Hegelschen Philosophie abhängig (G. W. F. >Hegel). Habermas fordert eine rein empirisch-materialistische Geschichtstheorie mit der Übersetzung der ontologischen Voraussetzungen in Gesellschaftskritik. Die Arbeiter als entfremdetste und "verkrüppeltste" Wesen der kapitalistischen Gesellschaft sind als revolutionäre Subjekte denkbar ungeeignet. An ihre Stelle tritt der revolutionsvorbereitende Dialog miteinander kommunizierender Wissenschaftler. lm Zeitalter des Spätkapitalismus lassen sich Staat und Gesellschaft nicht mehr voneinander trennen, sondern beide bedingen sich gegenseitig. Durch Herausbildung eines breiten Mittelstandes und Integration aller Schichten in die Gesellschaft fallen polare Klassengegensätze fort. So wird der Begriff "Klasse" für revolutionäre Zwecke unbrauchbar. Auch die Leninsche Imperialismus-Theorie ist nicht mehr aktuell, da das Ausbeutungsverhältnis der reichen gegenüber den armen Ländern in Form der Leninschen Analyse nicht mehr besteht. Soweit Habermas. Alle Vertreter der Frankfurter Schule haben erkannt, dass die Marxsche Verelendungstheorie nicht zutrifft. Gewerkschaften haben bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen erkämpft: Reformen haben die Revolution verhindert. Die ökonomische Armut ist ökonomischem Reichtum breiter Schichten gewichen. Ist angesichts dieser Lage Revolution möglich und notwendig'? Die Neue Linke meint ",ja" und will unter Aufnahme des Neomarxismus einen "Dritten Weg" zwischen dem dogmatischen Marxismus-Leninismus der Kommunisten und dem sozialen Liberalismus der Sozialdemokraten gehen. Ziel ist die >Emanzipation des Menschen, d. h. Befreiung von jeglicher Fremdbestimmung. Der Weg dahin beginnt bei der Bewusstmachung der Knechtschaft und führt (umgekehrt wie bei Marx) über die Veränderung des einzelnen Menschen zur Veränderung der Gesellschaft.
Nach Theodor W. Adorno ("Negative Dialektik") ist die Geschichte eine permanente Katastrophe. Verführt durch den Willen zur Macht, verfiel der Mensch im Herrschen über die Natur selbst dem Herrschaftsdenken: Er wurde vom Subjekt zum Objekt. Fortschritt ist in sein Gegenteil umgeschlagen (negative Dialektik). Da das Ganze falsch ist und da auch die Vernunft lediglich Reflex totalitären Herrschaftsanspruches ist, ist eine vernunftgesteuerte, revolutionäre Praxis der Veränderung des Ganzen nicht möglich. Es bleibt nur der Rückzug in die Theorie im Sinne einer Denkpause. Angesichts des Dominierens von Herrschaftsstrukturen in allen Lebensbereichen ist Bejahung des Leidens, Schizophrenie und amokartiker Anarchismus die einzige angemessene Lebenshaltung. – Kritik (vgl. Günter Rohrmoser, "Das Elend der kritischen Theorie"): Wie ist Veränderung möglich, wenn Theorie praxislos und Praxis theorielos bleibt? Wer übernimmt dann Verantwortung für schuldhafte Praxis? Kann man mit einer nihilistischen Geschichtsschau leben? Die (nach biblischem Verständnis: Hi. 1 f. u. ö.) begrenzte Herrschaft des Bösen in einer gefallenen Welt wird als absolut angesehen; aber kann man Gott aus der Geschichte ausklammern, der der Herr über alles ist und bleibt?
In Aufnahme und teilweiser Uminterpretation von Marx und Freud beschreibt Herbert Marcuse ("Der eindimensionale Mensch", "Versuch über die Befreiung" u. a.) folgenden Weg zum "neuen Menschen: Der heutige Mensch wird zwar nicht mehr von ökonomischem Zwang, aber von Konsumzwang geknechtet, der ihn libidinös und aggressiv an Warenform und bestehende Gesellschaft bindet. Er lebt weiterhin in Entfremdung in Form von Angst und Alltagsmühe. Durch Werbung werden Scheinbedürfnisse diktiert. Gleichzeitig wird die Erfüllung der wirklichen Bedürfnisse verhindert, da Herrschaft mit Triebunterdrückung verbunden ist (Übertragung der Freudschen These vom Auseinanderfallen von Lust- und Realitätsprinzip auf die gesellschaftliche Ebene). Durch bewusstseinsändernde Erziehung muss der Mensch dahin gebracht werden, wahre von falschen Bedürfnissen zu unterscheiden. Er muss revolutionäres Subjekt werden in der "großen Weigerung". Er muss an der Erkämpfung des "befriedeten Daseins" teilnehmen, in dem optimale Bedürfnisbefriedigung bei einem Minimum an Arbeit und Elend erreicht wird. Das Ästhetische ist Eichmaß für die erstrebte freie Gesellschaft. In ihr wird Arbeit zur Lust und Zärtlichkeit zum Zeichen repressionsfreier Sexualität. - Kritik: Ist eine Revolution sinnvoll und notwendig, wenn das vitale Bedürfnis danach nicht (mehr) besteht? Kann optimale Triebbefriedigung des einzelnen wirklich zu einer Gesellschaft führen, in der ein Zusammenleben noch möglich ist? Entstehen nicht vielmehr Zügellosigkeit, Libertinismus, Genusssucht und Egoismus? Freud selbst hatte sich ja für eine teilweise Sublimierung des Lustbedürfnisses ausgesprochen. Ideale wie Abschaffung der Arbeit oder Arbeit aus Lust gehen am seit jeher egoistischen. "bösen" Wesen des Menschen vorbei (1. Mose 8. 21 u. a.). Die Beschreibung des erstrebten befriedeten Daseins bleibt verschwommen. Marcuse setzt implizit die (laut Bibel nicht vorhandene) Möglichkeit menschlicher Vollkommenheit und Selbsterlösung voraus. Außerdem widerspricht eine als notwendig vorausgesetzte Abnahme der Bevölkerungszahl der gegenwärtigen weltweiten Bevölkerungsexplosion und ist in ihrer Erreichbarkeit genauso utopisch wie inhuman. Nicht durch Triebbefriedigung und -befreiung entstehen neue Menschen, sondern allein durch die Annahme der Erlösungstat Jesu Christi (Römer 5 ff. u. ö.). Auf marxistischer Seite weist Benjamin darauf hin, dass Marcuse mit seiner Herausstellung des biologischen Seins für die revolutionäre Praxis in die Nähe faschistischer Theorie gerät. Hier triumphiere letztlich >Nietzsche ("Übermensch") über Marx.
Nach der Erfahrung, dass das Proletariat als revolutionäres Subjekt ungeeignet ist, und dem Scheitern der Studentenrevolte nach außen hin, begann die Neue Linke den "langen Marsch durch die Institutionen" und entdeckte das Kind als in kleinen Schritten formbares revolutionäres Subjekt (Reformpädagogik statt Revolution). Ihr Anknüpfungspunkt: Die individualistische Industriegesellschaft steckt in einer Krise. Rationalismus, Wohlstandsmaterialismus, Sinnentleerung und die unbewältigte Vergangenheit der erziehenden Generation haben ein kulturgeschichtliches Vakuum geschaffen. In dieses Vakuum stößt die neomarxistische Konfliktpädagogik durch Aufzeigen unbefriedigter Bedürfnisse, Aufdecken von Konfliktsituationen, Darstellung der Veränderbarkeit der Situation, Einüben von Strategien, Aufzeigen der Notwendigkeit zum solidarischen Zusammenschluss. Erziehungsziel ist der mündige, vernünftige, kritikfähige Mensch. Im Hintergrund steht der (aus der Aufklärung stammende) Glaube an die Macht der Erziehung und die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Konkret wird behauptet: Der Mensch ist von Natur aus gut, wird aber durch die schlechte Gesellschaft verdorben. Die Persönlichkeit ist machbar. Sie ist von Umwelt und Erziehung, aber nicht von Erbanlagen abhängig; deshalb Bildungsgesellschaft und Chancengleichheit! Jeder ist fähig zu vernünftiger Selbstbestimmung und doch zugleich auf Heilsvermittler angewiesen, eine elitäre Minderheit, die zeigt, was gut und böse ist. "Vernünftigkeit", d. h. kritische Rationalität, kann durch Konflikte gefördert werden. In der Praxis beabsichtigt die Konfliktpädagogik folgende Wirkungen: Durch Verhasstmachung des herkömmlichen geisteswissenschaftlichen Schulsystems weckt sie den Wunsch nach alternativen Schulsystemen, z. B. Gesamtschulen; in diesen ist die Trennung vom Elternhaus und die Bildung einer kollektiven Identität verstärkt möglich. In emanzipatorisch geprägten Rahmenrichtlinien wird dazu angeleitet, die Gesellschaft als von Konflikten und Herrschaftsinteressen bestimmt zu sehen. Dies wirkt sich vor allem auf den Deutsch-, Politik- und (immer mehr reduzierten) Geschichtsunterricht aus. Nichtrevolutionäre Dichter und Personen der Geschichte werden zunehmend übergangen oder uminterpretiert. Antiautoritäre Erziehung stellt alle überlieferten Werte und Autoritäten in Frage, insbesondere die Autorität von Eltern, Staat, Geboten und Gott. Die Anwendung des neomarxistischen Soziologen-Deutsch und die Vernachlässigung des Grammatikunterrichts bewirken Einschüchterung und Reduktion des logischen Denkens der Schüler. Statt dessen kommt es zur erwünschten Aneignung von Klischees. Durch die Taktik der moralischen Überbietung (Überforderung des zu überwindenden Systems) wird die gegenwärtige Gesellschaft als unannehmbar gezeichnet. während die zu schaffende, utopische Gesellschaft in verschwommenen, aber hellen Zukunftsfarben erscheint. Der Geschlechtstrieb wird als Instrument lustbetonter Selbstverwirklichung angesehen. Demgemäss liegt besondere Betonung auf dem Sexualkundeunterricht und dem Zerbrechen sexueller Tabus.
Zwischen der emanzipatorischen Pädagogik der Neuen Linken und der kommunistischen Pädagogik des Marxismus-Leninismus gibt es Unterschiede, wobei allerdings zu bedenken ist, dass erstere die westliche Demokratie zerstören und damit dem Kommunismus – gewollt oder ungewollt – den Boden bereiten soll. Der Zerstörung folgt dann neue Autorität (wenigstens so lange, bis die utopische kommunistische Weltgesellschaft erreicht ist). W. Brezinka ("Erziehung und Kulturrevolution") nennt folgende wichtigen Unterschiede: Die emanzipatorische Pädagogik erstrebt die emanzipierte Persönlichkeit, die Fähigkeit zur Ideologiekritik, die Befreiung von Normen, kein Leistungsprinzip, antiautoritäre Erziehung, Misstrauen gegen den Staat, sexuelle Freizügigkeit und Schmälerung der Elternautorität. Die kommunistische Pädagogik dagegen hat zum Ziel die sozialistische, parteiliche Persönlichkeit, die Aneignung der sozialistischen Idee, die Verinnerlichung sozialistischer Normen, das Leistungsprinzip, autoritäre Erziehung, Bejahung des sozialistischen Staates, sexuelle Zucht und Unterstützung der sozialistisch-autoritären Familie.
Kritik: Es ist fraglich, ob die Reformpädagogik des Neomarxismus zum erhofften neuen Menschen führt. Die Zerstörung der Autoritäten und die Verschwommenheit der Vorstellungen vom neuen Menschen und seiner Erreichbarkeit rufen in den meisten Jugendlichen nicht revolutionäre Gesinnung, sondern Verunsicherung hervor; Verunsicherung aber ist der Nährboden für Selbstzerstörung. Sturz in die Diktatur und Terrorismus. Die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen im aufklärerischen Humanismus, im naturalistischen Immanentismus, im Evolutionismus und im >Nietzscheschen Denken vom Übermenschen sind sämtlich zu hinterfragen, insbesondere anhand des biblischen Welt- und Menschenbildes (siehe vor allem 1. Mose 1-3: 8, 21; Ps. 51- 7; Römer 1-8; Hebr. 4, 3: 11. 3 u. a.). Dieses besagt: Der Mensch ist nicht von Natur aus gut. Ferner gilt: Die Persönlichkeitsentwicklung ist vom Zusammenspiel von Erbanlagen und Erziehung abhängig, nicht von der Erziehung allein. Keiner kann die heutige komplexe Gesellschaft völlig überschauen und sich selbst absolute Normen setzen. Gehorcht der Mensch einer elitären Minderheit von "Heilsvermittlern", gerät er erst recht in Knechtschaft. Viele Menschen zerbrechen unter Konflikten sowie unter der Kollektivierung und Entblößung ihres Innenlebens in Gruppendynamik, Rollenspielen und Soziogrammen. Sexuelle Freizügigkeit führt leicht zur Versklavung unter das eigene Triebleben und unter die Schamlosigkeit der anderen. In zahlreichen Punkten kann die emanzipatorische Sozialisationsidee als direkter ideologischer Gegenentwurf zur biblischen Heilsbotschaft entlarvt werden. Es stehen einander gegenüber: eschatologisches Reich Gottes in der Bibel oder herrschaftsfreies, weltimmanentes "Reich der Freiheit" im N.; der Mensch als Ebenbild Gottes oder der kollektivierte "neue Mensch"; Erlösung durch Christus oder libidinöse Versöhnung von "Ich" und "Es"; Gemeinde unter Leitung des Heiligen Geistes oder sozialisierte Gruppe unter der Leitung von Psychotechnik; Heiligung oder optimale Bedürfnisbefriedigung; Freiheit in Gotteskindschaft oder Emanzipation des Menschen vom lebendigen Gott. Die Ideologie des N. trägt weithin die Kennzeichen des in der Bibel für die Endzeit prophezeiten "Menschen der Gesetzlosigkeit" (Mt 24, 12: 2. Tim 3, 1-4; 2. Thess 2, 3; Antichrist). Demgegenüber gilt es, daran festzuhalten: Missachtung der Autorität Gottes ist Sünde und führt in freiheitsvernichtende Bindungen hinein (Röm 1 u. ö.). Trotz der Gefahr des Autoritätsmissbrauchs sind Persönlichkeitsentwicklung und Zusammenleben ohne Autorität und objektive sittliche Normen nicht möglich (Ps. 119; Röm 13 u. ö.). Die Bibel lehrt, die Eltern zu ehren – zum eigenen Segen der Kinder (2. Mose 20, 12; Eph. 6, 1 f. u. ö.). "Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis. Die Toren verachten Weisheit und Zucht" (Spr. 1. 7).
S. auch: Kommunismus; Libertinismus; Anarchismus; >Psychoanalyse; Habermas, Jürgen; Ideologie; Grüne Ideologie; Selbstverwirklichung; Gruppendynamik; u.a.
Lit.: T. W. Adorno, Negative Dialektik, 1966; J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1969; ders., Theorie und Praxis, 1963; J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971; M. Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., 1968; H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 1974; ders., Triebstruktur und Gesellschaft, 1969; ders., Versuch über die Befreiung, 1972. – Kritisch: W. Brezinka, Erziehung und Kulturrevolution, 1976; G. Rohrmoser, Das Elend der kritischen Theorie, 1973; ders., Die Strategie des Neomarxismus, 1975; L. Gassmann, Grün war die Hoffnung, 1994, 124-135.
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de