Zeitgeist

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1. Zeitgeist – kein theologischer Fachbegriff

Die gängigen theologischen Fachlexika führen das Stichwort "Zeitgeist" (Zeitgeist) nicht. Den anerkannten Standardwerken EKL (3. Aufl), ELThG, Evangelisches Gemeindelexikon, RGG (3. Aufl.) ist zum Stichwort und Phänomen Zeitgeist nichts zu entnehmen. Zeitgeist beschreibt in der Tat ein gesellschaftliches Phänomen, aber Theologie und Kirche sind in diese Entwicklungen involviert und stehen nicht abseits. Weil Theologie und Kirche in dieser Welt sind, deshalb werden sie selbst dann vom Zeitgeist nicht verschont, wenn sie sich ihm entgegenstellen, was an sich deren Aufgabe ist.

2. Was meint Zeitgeist?

Säkulare Lexika bestimmen Zeitgeist als: "Denk- und Fühlweise eines Zeitalters" (Lutz Mackensen, Das Wörterbuch für jeden Tag, Neuausgabe 1990, S. 686), "Geist eines Zeitalters" (Richard Pekrun, Das Deutsche Wort, 1963, S. 768). In diesen Definitionen kommt zum Ausdruck, dass Zeitgeist seiner jeweiligen Zeit verhaftet ist und damit der sich ständig wandelnden Denk- und Fühlweise der jeweiligen Gesellschaft unterworfen, ja diese ausmacht. Zeitgeist sah und sieht in jeder Zeitepoche anders aus, ebenso in jedem Großraum dieser Welt, denn das Lebensgefühl ist nicht überall dasselbe, wobei andererseits der gerade herrschende Zeitgeist auch das Lebensgefühl bestimmt. So ist beispielsweise der Zeitgeist der westlichen Welt ein ganz anderer als der in Gegenden, wo ein fundamentalistischer Islam herrscht.

3. Gegenwärtige gesellschaftliche Erscheinungen des Zeitgeists in der westlichen Welt

Die westliche Welt ist inzwischen wesentlich geprägt von einem abnehmenden Einfluss der angestammten Religion (Christentum), den Auswirkungen der Französischen Revolution, die beide den >Nihilismus begünstigen, allgemeiner Liberalität, Wohlstand und der Ideologie des Neomarxismus (68erBewegung), aber auch von einem Neuerwachen heidnischer Religiosität und Spiritualität und dem Einfluss fremder (Welt)Religionen (Islam, asiatische Hochreligionen). Das Christentum hat auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklungen so gut wie keinen Einfluss mehr. (In den Vereinigten Staaten von Amerika dürfte der Einfluss des Christentums – in protestantisch-freikirchlicher Ausprägung – stärker sein). Kennzeichen gegenwärtigen Zeitgeistes ist das Fehlen fester Werte und Normen, auf die die Bewohner eines Staatsgebildes sich festlegen ließen. Aus sich heraus kann der Mensch keine dauerhaften Maßstäbe setzen, und doch will sich der autonome Mensch die Lebensgesetze selbst geben. Der Geist unseres gegenwärtigen Zeitalters, das auch als postmodernes bezeichnet wird, wurde von Paul Feyerabend mit "anything goes" umschrieben (Postmoderne). Wenn überhaupt noch von einer >Ethik gesprochen werden kann, dann handelt es sich um die von Jürgen >Habermas geforderte Diskursethik, die keine festen Grundsätze kennt, sondern immer von neuem gewonnen werden soll und damit sich laufend wandelt. Gegenwärtiger Zeitgeist zeichnet sich bei oberflächlicher Betrachtung durch Liberalität und Pluralismus aus; doch die vorgegebene Toleranz ist in Wirklichkeit nur eine scheinbare, denn wer dem Zeitgeist widerspricht, erfährt keine Toleranz, wobei ehrliche Liberalität und Pluralismus Widerspruch ertragen müssten. Weiter zeichnet sich gegenwärtiger Zeitgeist durch Diesseitsverhaftetheit aus, was mit dem Verlust der transzendenten Dimension zu tun hat. Ebenfalls damit zusammenhängend ist eine auszumachende Dekadenz. Soviel wie möglich in möglichst kurzer Zeit erleben, denken viele, weil für sie nur das diesseitige Leben zur Verfügung steht. Weil es für sie ein jenseitiges, zukünftiges Leben nicht gibt, streben sie eine Erlebnismaximierung an. Eine zunehmende Individualisierung bewirkt Versingelung und zunehmende Bindungsunwilligkeit und -unfähigkeit. Eine Vergreisung der Gesellschaft zeichnet sich ab. Der Säkularisierung einerseits korrespondiert und folgt andererseits eine Remythisierung (vgl. New Age). Wir erleben praktischen Atheismus, der religiöses Erleben sucht. Das erneute Fragen nach Religiosität erfolgt jenseits etablierter Kirchen und Theologie. Es verwendet Versatzstücke unterschiedlicher >Religionen und Kulte. Der allgemeine Individualismus macht vor dem Religiösen nicht Halt; man setzt nach seinem Geschmack seine Individualreligion durch eigene Auswahl aus den verschiedenen religiösen Angeboten zusammen. Der amerikanische Soziologe Peter L. Berger nennt dies den "Zwang zur Häresie " (Buchtitel). Eine alle einende "Ideologie" fehlt aufgrund des übersteigerten Individualismus in gesellschaftlicher, kultureller, politischer und religiöser Hinsicht. Trotz eines zunehmenden Fragens nach mehr Spiritualität leidet die westliche Gesellschaft unter einem Transzendenzverlust.

4. Kirchlich-theologische Erscheinungen des Zeitgeists in der westlichen Welt

Dem geforderten und teilweise verwirklichten gesellschaftlichen Pluralismus korrespondiert ein religiöser. Fast alle religiösen Sinnanbieter der weiten Welt sind inzwischen in der westlichen Welt präsent und bieten sich als erfolgreiche Konkurrenten zu den etablierten und staatlich bevorzugten (Groß)Kirchen an. Deren Antwort auf den gesellschaftlichen und religiösen Pluralismus als Erscheinung westlichen Zeitgeists waren und sind z. Zt. nicht Konzentration von Theologie und Kirche, sondern ebenfalls Pluralismus, nicht allein ein theologischer, sondern sogar ein religiöser, wobei nicht jeder Richtung dasselbe Recht zugestanden wird, konservativer Richtung weniger als liberaler. Erscheinungen dessen sind die interreligiösen Gebete, wobei die "Friedensgebete" von Assisi (1986 und 2002) weltweit Beachtung fanden. Entschiedenheit wirkt in einer vom Pluralismus geprägten religiösen, kirchlichen und theologischen Landschaft hinderlich. Mit Wolfhart Pannenberg wird - ausgesprochen und auch unausgesprochen – von der irrigen Ansicht ausgegangen, hinter jeder Religion stünde dieselbe göttliche Wirklichkeit wie hinter der Botschaft Jesu. Dass der z. Zt. in Theologie und Kirche herrschende Pluralismus letztlich tatsächlich Polytheismus ist, wird allgemein gedanklich nicht realisiert und kann dies in einem postmodernen Zeitalter, das auch ein nachchristliches ist, nicht werden. Dass dies ein Verstoß gegen das 1. Gebot ist, ist damit freilich ein obsoleter Gedanke.

5. Der Geist des Evangeliums steht dem Zeitgeist entgegen.

Da die Botschaft des Evangeliums ewig gültig bleibt (Mt. 24,35; 1. Petr. 1,23), der Zeitgeist sich aber seinem Wesen nach beständig wandelt, stehen sie sich unversöhnlich entgegen und können zu keinem Ausgleich gebracht werden. Das Evangelium ist darum notwendigerweise Infragestellung und Kampfansage an den jeweiligen Zeitgeist. Das Evangelium wirkt immer ideologiekritisch. AT (vgl. z. B. die prophetische Botschaft) und NT legen davon beredtes Zeugnis ab. Der Zeitgeist ist Ausdruck des natürlichen Menschen, der keine Macht über sich dulden will, damit aber gerade unter der Herrschaft des Satans steht, der er durch die Erbsünde von Anfang an unterstellt ist. "Der Fürst dieser Welt" (M. Luther) ist der "Initiator" des Zeitgeists. Die Botschaft des Evangeliums aber ruft aus dem Machtbereich Satans heraus in den Machtbereich Christi, "von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht" (1. Petr. 2,9). Somit steht das Evangelium nicht allein dem Zeitgeist entgegen, sondern ruft daraus heraus. Der Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber ist ein Nein gegen den Zeitgeist Der Wille Gottes und der Zeitgeist lassen sich nicht harmonisieren. Wir können nicht beidem dienen. Eine Entscheidung ist gefordert in einer entscheidungsfeindlichen Zeit. Zeitgeist bedeutet Verderben, der Wille Gottes ist "Erkenntnis der Wahrheit" (1. Tim. 2,4) und damit ewiges Leben.

S: auch: >Offenbarung; >Wahrheit; Pluralismus; Modernismus; Postmoderne; Ökumene der Religionen; New Age; >Fundamentalismus; u.a.

Lit.: P. L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, 1992; D. Hunt, Die okkulte Invasion. Die unterschwellige Verführung von Welt und Christenheit, 1999; C. Meves, Wer Wind sät ... Die Folgen der Entschämung und der Jugendverführung, 1998; W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, 1962, in: Gesammelte Aufsätze, 285 ff.; W. Rominger, Jedem das Seine – auch im Glauben? Eine bislang fast ausgebliebene Anfrage an den praktischen Pluralismus der Kirchen: Pluralismus bringt Polytheismus, in: Sternbrief der Cornelius-Vereinigung 3/2002, 7-13.

Walter Rominger


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Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):

1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch

Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de