Hermeneutik (griech. hermeneuo = dolmetschen) ist die Lehre vom Verstehen oder Auslegen, etwa in Bezug auf die Heilige Schrift. Theologische Irrlehren und Sekte n gedeihen aufgrund der Vernachlässigung und Missachtung grundlegender Auslegungsregeln, die nachfolgend kurz zusammengefasst sind:
Im Mittelalter bevorzugte man den vierfachen Schriftsinn:
Demgegenüber gilt es festzuhalten am einfachen, wörtlichen Sinn – nach Luther:
am einfachen und sicheren, buchstäblichen Wortsinn. Denn die Schrift hat nur einen wörtlichen bzw. Literalsinn (sensus literalis), der unterschiedlich angewendet werden kann. Es ist immer herauszufinden, was an der jeweiligen Stelle als Wortsinn zu verstehen ist. Dies ergibt sich vom Kontext (Wortzusammenhang) her. Der sensus literalis besitzt Vorrang vor allen anderen Deutungsmöglichkeiten. Wir sollten jedes Wort in seiner natürlichen Bedeutung stehen lassen und diese erst dann aufgeben, wenn der Glaube uns dazu zwingt. Die Heilige Schrift legt sich selber aus – von ihrem Gesamtzusammenhang und dem sich daraus ergebenden Wortsinn der einzelnen Bibelstellen her, ohne Hinzufügungen (z.B. "neue Prophezeiungen", Träume, Visionen u.ä.) oder Abstriche (z.B. durch Bibelkritik).
Nun ist es natürlich nicht immer so einfach zu erkennen, was der Wortsinn ist. Aber es gibt gewisse Regeln dafür, etwa grammatikalische Kenntnisse, die man besitzen sollte. Hinzu kommen historische und zeitgeschichtliche Umweltkenntnisse, welche die Entstehungsgeschichte des Textes erhellen können. Wichtig ist vor allem die Beachtung des unmittelbaren und weiteren Kontextes. Der unmittelbare Kontext ist der Textzusammenhang, der dieser Stelle unmittelbar vorausgeht oder sie abschließt. Der weitere Kontext bezieht sich auf das vollständige konkrete biblische Buch, in dem die Stelle steht, ja auf die Bibel insgesamt. Die Notwendigkeit des Glaubens, der Erleuchtung durch den Heiligen Geist (pneumatische Exegese) ist ebenso wichtig. Luther hat betont, dass die Heilige Schrift "Christus treibt", d.h. dass alles in ihr auf Christus hinzielen sollte. Man sollte sich allerdings vor der Gefahr hüten, stellen – etwa im Alten Testament – in dieser Hinsicht überzuinterpretieren. Alle Irrtümer in der Theologie entstehen durch eine falsche Deutung der Heiligen Schrift, vor allem durch die Vernachlässigung der einfachen, klaren Schriftworte und durch die übertriebene Vorliebe für oft unklare bildliche Ausdrücke und höchst subjektive Hypothesen.
Wichtig ist eine Regel, die schon Thomas von Aquin aufgestellt hat: nämlich dass ein Bildwort eben gerade der Wortsinn sein kann, wenn der Kontext dies erfordert. Wenn also die Heilige Schrift davon spricht, dass Gott einen "Arm" hat und durch seinen Arm alles bewegt oder hält, dann ist dies ganz klar ein Bildwort vom Wortsinn her. Wenn man es aber in der Art wörtlich nähme, dass man sagte, Gott hätte einen Arm genau wie ein Mensch, dann wäre dies eine Fehlinterpretation. So ist z.B. die Bildsprache in Daniel, der Johannesoffenbarung usw. in Details als Bildsprache ernstzunehmen, aber die Gesamtbeschreibungen, in welche diese Bilder eingeordnet sind, entsprechen wirklichen historischen Abläufen.
Hierzu einige Beispiele:
Das Standbild in Daniel 2 und die vier Tiere in Daniel 7 sind Bilder, aber das, was sie ausdrücken, spielt sich wirklich in der Geschichte ab (nämlich die Abfolge weltgeschichtlicher Reiche). Oder: Die Kette in Offb 20,1f., an welche Satan angebunden wird, ist ein Bild aus dem irdischen Bereich, um zu verdeutlichen, dass Satan in dieser Zeit die Macht von Gott genommen wird. Aber auch wenn die "Kette" ein Bild ist, drückt sie doch eine Realität in der (künftigen) Geschichte aus: die Bindung Satans durch Gott. Bei den Bildern und Vergleichen in den Gerichtsvisionen der Johannesoffenbarung z.B.
("Heuschrecken, die aussehen wie Rosse, die zum Krieg gerüstet sind ... sie hatten Panzer wie eiserne Panzer ..."; Offb 9,7.9)
gibt es sicherlich einen gewissen Interpretationsspielraum (z.B. wirkliche Heuschrecken oder "Heuschrecken" als "Beschreibung moderner Panzer" oder als "Ideologien"), doch sollte man auch in solchen Fällen die Deutung bevorzugen, die der wörtlichen Aussage näher liegt (somit wäre die Deutung als "Ideologien" am unwahrscheinlichsten).
Die wörtliche Bedeutung ist eher in den historischen als in den poetischen Büchern der Schrift beizubehalten. Die wörtliche Deutung muss aufgegeben werden, wenn sie unpassend ist, d.h. wenn sie eine Unmöglichkeit in sich schließt und gegen die lehrmäßigen und moralischen Richtlinien der gesamten Heiligen Schrift verstößt. Schließlich besagt eine bereits von Augustin aufgestellte exegetische Grundregel, dass unklare Bibelstellen von den klaren Stellen her zu verstehen und auszulegen sind – und nicht umgekehrt. Wie viel Verwirrung ist in der Kirchen- und Sektengeschichte schon entstanden, weil diese einfache Regel nicht beachtet wurde und man aus geheimnisvollen Stellen großartige, aber falsche Lehrgebäude konstruiert hat!
Lit.: H. Stadelmann, Grundlinien eines biblischen Schriftverständnisses (div. Auflagen).
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de