Gemeint ist die Berechnung von Jahreszahlen (manchmal auch Tagen) hinsichtlich der Wiederkunft Jesu Christi.
Bereits j�dische Rabbiner im ersten Jahrhundert nach Christus wandten � etwa unter Hinweis auf Zahlen im biblischen Buch Daniel � die Regel an: ein Tag f�r ein Jahr. Sie versuchten, dadurch das Kommen des Messias zu berechnen. Auch Joachim von Fiore hat im Mittelalter Berechnungen angestellt. So z�hlte er zum Beispiel die 1260 Tage in Offenbarung 11,3 und 12,6 zum Geburtsjahr Jesu Christi hinzu und gelangte dadurch zum Jahr 1260, in welchem das Zeitalter des Geistes beginnen sollte. Manches weitere Beispiel aus der (Kirchen-)Geschichte f�r Termin-Berechnungen k�nnte genannt werden (etwa der w�rttembergische Pr�lat Johann Albrecht >Bengel, der die Wiederkunft Christi auf das Jahr 1836 datierte).
Von welchem Grunddatum gehen solche Berechnungen aus? Mindestens drei M�glichkeiten sollen Erw�hnung finden.
Im 19. Jahrhundert erregte vor allem die Voraussage der Wiederkunft Jesu Christi f�r das Jahr 1844 durch William Miller gro�es Aufsehen (>Adventisten). Vor Miller, der diese "Entdeckung" lange Zeit f�r sich behielt und erst 1831 damit an die �ffentlichkeit ging, hatte allerdings der Engl�nder John Aquila Brown diese Jahreszahl �ffentlich vertreten, und zwar in einer bereits 1823 publizierten Schrift. Brown (und nicht Miller, auch nicht Charles Taze Russell) d�rfte als der wahre Urheber der Deutung der sieben Zeiten in Daniel 4 auf 2520 Jahre gelten. Die 2300 Tage aus Daniel 12 sollten laut Brown 1844 enden, die 2520 Jahre oder sieben Zeiten aus Daniel 4 im Jahre 1917 (ausgehend von der f�lschlich auf das Jahr 604 v. Chr. datierten Zerst�rung Jerusalems). John Nelson Barbour verschob diesen Termin (ebenso unzutreffend) auf 606 v. Chr. und gelangte dadurch auf (ungef�hr) 1914. Diese Berechnung hat schlie�lich Russell �bernommen (s.u.) . Heute geht die Wachtturm-Gesellschaft vom Jahr 607 v. Chr. aus, weil Russell f�lschlich ein Jahr 0 gez�hlt hatte.
Als Beispiel f�r Endzeit-Berechnungen w�hlen wir das Jahr 1914 und seine Berechnung durch Russell und die Wachtturm-Gesellschaft. Wie gelangt die Wachtturm-Gesellschaft zum Datum "1914"? Sie geht davon aus, dass 607/606 v. Chr. mit der Zerst�rung Jerusalems durch den babylonischen Herrscher Nebukadnezar die theokratische Vorbildherrschaft Israels endete und die "Zeiten der Nationen" begannen. 607/606 v. Chr. ist also der Ausgangspunkt, mit dem man zu z�hlen beginnt. Dann wird gefragt, wie lange die "Zeiten der Nationen" dauern. Die Antwort findet man in Dan 4, wo Daniel einen Traum Nebukadnezars deutet. Darin heisst es: "Man wird dich (Nebukadnezar) aus der Gemeinschaft der Menschen versto�en, und du musst bei den Tieren des Feldes bleiben, und man wird dich Gras fressen lassen wie die Rinder, und du wirst unter dem Tau des Himmels liegen und nass werden, und sieben Zeiten werden �ber dich hergehen, bis du erkennst, dass der H�chste Gewalt hat �ber die K�nigreiche der Menschen und sie gibt, wem er will" (Dan 4,22).
Die "sieben Zeiten" werden als die Dauer der "Zeiten der Nationen" interpretiert. Wie aber sind diese "sieben Zeiten" mit Jahreszahlen zu f�llen? Zur Beantwortung "springt" man in die Johannesoffenbarung, wo von "dreieinhalb Zeiten" die Rede ist. Die weitere Vorgehensweise wird durch das folgende Zitat aus der Wachtturm-Schrift "Frieden und Sicherheit � wie wirklich zu finden?" erhellt:
"In Offenbarung 11:2,3 wird gezeigt, dass 1 260 Tage 42 Monate oder dreineinhalb Jahre sind. In Offenbarung 12:6,14 ist von derselben Anzahl Tage (1 260) die Rede, doch werden sie dort als �eine Zeit [1] und Zeiten [2] und eine halbe Zeit` oder dreieinhalb �Zeiten` bezeichnet. Jede dieser �Zeiten` umfasst 360 Tage (3 1/2 x 360 = 1 260). Jeder Tag dieser prophetischen �Zeiten` steht f�r ein ganzes Jahr gem�ss dem Grundsatz �Ein Tag f�r ein Jahr` (4. Mose 14:34; Hesekiel 4:6). Die �sieben Zeiten` entsprechen daher 2 520 Jahren (7 x 360). Z�hlen wir vom Herbst des Jahres 607 v.u.Z. an, als das Vorbildk�nigreich Gottes in Juda von Babylon gest�rzt wurde, so bringen uns die 2 520 Jahre zum Herbst des Jahres 1914 u.Z. (606 1/4 + 1913 3/4 = 2 520). Das ist das Jahr, in dem Jesus Christus mit dem �K�nigreich der Welt` betraut werden sollte" (S. 72 f.).
So geschlossen dieses Rechenkunstst�ck auf den ersten Blick erscheinen mag, so gewichtig sind die Einw�nde, die sich dagegen erheben. Ich beschr�nke mich auf die vier wesentlichsten:
a. Jerusalem wurde nicht 607/606 v. Chr. von Nebukadnezar zerst�rt, sondern 587 v. Chr.
Somit ist der Ausgangspunkt der ganzen Berechnungen falsch - und demzufolge auch das Ergebnis.
b. Die Deutung der "sieben Zeiten" in Dan 4 durch die Wachtturm-Gesellschaft ist reine Allegorese.
Aus dem Text geht nichts anderes hervor, als dass Nebukadnezar "sieben Zeiten" lang von einer Geisteskrankheit geplagt und seine Herrschaft von ihm genommen wird, bis er erkennt, dass Gott allein "Gewalt hat �ber alle K�nigreiche der Welt und sie gibt, wem er will" (vgl. Dan 4,13.22). Die "sieben Zeiten" werden in Dan 4 nicht n�her erkl�rt, doch ist mit der Septuaginta und Josephus (Antiquitates X, 216) anzunehmen, dass es sich um "sieben Jahre" handelt (vgl. G. Maier, Der Prophet Daniel, 1982, 182).
c. Auch die "dreieinhalb Zeiten" aus Offb 12,14 sind aller Wahrscheinlichkeit nach als "dreieinhalb Jahre" im w�rtlichen Sinn zu verstehen, was durch die parallelen Charakterisierungen "42 Monate" und "1.260 Tage" (Offb 11,2 f.; 12,6) geradezu unterstrichen wird. Sie beziehen sich vermutlich auf die Tr�bsalszeit im Zusammenhang mit der Herrschaft des Antichristen, die sieben (2 x 3 1/2) Jahre dauern wird.
d. Das Gleiche gilt f�r die Deutung der "1. 260 Tage" in Offb 11,3 und 12,6 als "1.260 Jahre".
Die Deutung der "Tage" als "Jahre" widerspricht ganz offensichtlich der Parallelit�t zwischen den "1.260 Tagen" und den "42 Monaten" in Offb 11,2 f. sowie den dort beschriebenen und zeitlich eng begrenzten Ereignissen (es sei denn, man deutet die gesamte Offb allegorisch, was die Zeugen Jehovas auch tun). Vor allem aber gibt es in der Bibel keinen allgemeing�ltigen Grundsatz "Ein Tag f�r ein Jahr", sondern nur eine Anwendung dieses Verfahrens in bestimmten Situationen, die � gerade in 4. Mose 14,34 und Hes 4,5 f. � klar als solche gekennzeichnet werden. In Offb 11 und 12 hingegen ist nirgends ein Hinweis auf eine Anwendung dieses "Grundsatzes" in diesem Zusammenhang zu finden, so dass kein Anlass besteht, aus "Tagen" "Jahre" zu machen.
Auch die Aussage aus 2. Petr 3,8, dass ...
"ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre"
... ist, geh�rt in den unmittelbaren Kontext, in dem sie steht. Sie soll die auf die Wiederkunft Christi wartende Gemeinde zur Geduld ermahnen und tr�sten. Es w�re falsch, daraus eine abstrakte Regel abzuleiten und diese auf Offb 11 und 12 zu �bertragen. Das Jahr 1914 ist nach allem Gesagten nicht zu halten. Die Deutung wurde denn auch von den Zeugen Jehovas � v.a. allerdings infolge des Aussterbens der betreffenden 1914er-Generation � in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgegeben.
Die Aussagen Jesu bez�glich Endzeit-Berechnungen sind eindeutig.
Als er von seinen J�ngern gefragt wird ...
"Was wird das Zeichen sein f�r dein Kommen und f�r das Ende der Welt?" (Mt 24,3),
da nennt er ihnen eine ganze Reihe von Zeichen daf�r, die (vermehrt) auftreten, wenn sein Kommen nahe ist (Mt 24,4 ff. parr.). Aber bez�glich der Berechnung eines genauen Datums sagt er ihnen (und uns):
"Von dem Tag aber und von der Stunde weiss niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater... Darum wachet; denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt!" (Mt 24,36.42).
Der Textzusammenhang ergibt dabei unmissverst�ndlich, dass sich die Formulierung "Tag und Stunde" auf die Berechnung eines Datums �berhaupt bezieht. Das ist deshalb wichtig zu betonen, weil immer wieder behauptet wird, "Tag und Stunde" k�nne man nicht wissen, aber das Jahr. Aber gerade das will Jesus nicht sagen. Er stellt nur fest, dass bei einer Vermehrung der Zeichen sein Kommen nahe ist, betont jedoch gegen�ber jeder Berechenbarkeit das �berraschende seines Erscheinens, das sein wird "wie ein Blitz" (Mt 24,23ff.)
Das wird unterstrichen durch die Aussage des auferstandenen Christus kurz vor seiner Himmelfahrt. Als ihn die J�nger fragen:
"Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich f�r Israel?", da antwortet er ihnen: "Es geb�hrt euch nicht, Zeitl�ufe (chronous) oder Zeitpunkte (kairous) zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat, aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Jud�a und Samarien und bis an das Ende der Erde" (Apg 1,6 ff.).
Die J�nger sollen nicht �ber heilsgeschichtliche Zeitpunkte spekulieren und Berechnungen aufstellen, sondern in Treue ihr Missionswerk tun. Dann erst wird Jesus Christus wiederkommen in Herrlichkeit (vgl. Mt 24,14).
Nun gibt es freilich Stellen im Alten und Neuen Testament, vor allem in den apokalyptischen Schriften, in denen Zahlen vorkommen, die sich auf Ereignisse in der Heils- und Weltgeschichte beziehen (s.o.). Erlauben diese Zahlen, die Wiederkunft Christi und den "Abschluss des Systems der Dinge" zu berechnen, wie etwa die Zeugen Jehovas behaupten? Besteht somit ein Widerspruch zwischen den gerade zitierten Aussagen Jesu �ber die Nichtberechenbarkeit der endzeitlichen Termine einerseits und den Zahlenangaben, etwa im Buch Daniel oder in der Johannesapokalypse, andererseits? Oder zeigen gerade die gescheiterten (und dann teilweise nachtr�glich umgedeuteten) Berechnungen der unterschiedlichen Sekten auf, dass Jesu Ablehnung einer Berechenbarkeit des Tages Jahwes, seiner Wiederkunft etc. mit den anderen biblischen (chronologischen) Aussagen �bereinstimmt?
Die Antwort ergibt sich mit folgendem Zitat von Gerhard Maier:
"Beachtet man den Zusammenhang, dann k�nnen die 1.290 bzw. 1.335 Tage eigentlich nur auf die �letzten Stufen der Endgeschichte` gehen, wo sie sich u. U. sogar in einem �u�eren Sinne erf�llen ... Die 1.335 Tage sind l�nger als die 1.290 Tage von V. 11 (Dan 12,11), l�nger als die 1.150 Tage von Dan 8,14, l�nger als die 1.260 Tage von Offb 11,3; 12,6 und evtl. l�nger als die 42 Monate von Offb 11,2 und 13,5. Schlie�lich besteht offensichtlich eine Verbindung zu den 3 1/2 Zeiten von Dan 7,25; 12,7 und Offb 12,14. Man kann vermuten, dass die 1.335 Tage die zweite H�lfte der letzten Jahrwoche von Dan 9,27 bilden" (G. Maier, ebd., 1982, 422 f.).
�hnlich deutet Arnold Fruchtenbaum die 1.260 Tage (= 3 1/2 Jahre) aus Offb 11,3; 12,6 auf die zwei Teile der noch bevorstehenden siebenj�hrigen Herrschaft des Antichristen, insbesondere auf deren zweite H�lfte nach der Aufstellung des Gr�uels der Verw�stung im Tempel. Unter Bezugnahme auf Dan 12,11 f. schreibt er:
"Diese Danielstelle nennt nun zwei weitere Zahlen. Die erste betr�gt 1.290 Tage, also zus�tzlich drei�ig Tage, in denen der Greuel der Verw�stung im Tempel steht, bevor er beseitigt wird. Die zweite Zahl betr�gt 1.335 Tage, also eine Zeitspanne, die 45 Tage �ber die 1.290 Tage und 75 Tage �ber die 1.260 Tage hinausreicht. Ein besonderer Segen wird denen verhei�en, die bis zum 1.335. Tag aushalten. Der Segen besteht darin, dass die, die bis zum 75. Tag der Zwischenzeit am Leben bleiben, den Beginn des messianischen Reiches erleben d�rfen. Viele werden es nicht schaffen und sterben, bevor der 1.335. Tag kommt, obwohl sie �ber den 1.260. Tag hinaus am Leben geblieben waren" (Fruchtenbaum, Handbuch der biblischen Prophetie, I/1986, 318).
Durch die bisherige Darstellung k�nnte der Eindruck entstanden sein, dass die M�glichkeit einer baldigen Wiederkunft Jesu Christi abzulehnen sei. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Wenn auch die Endzeitspekulationen und -modelle verschiedener Autoren und Sekten aus biblisch-theologischen Gr�nden kritisiert werden m�ssen, so kommen wir doch aus denselben biblisch-theologischen Gr�nden zum Schluss, dass wir st�ndig bereit sein sollten, die Wiederkunft Jesu Christi zu erwarten. Der Herr selber hat uns dazu n�mlich immer wieder aufgerufen:
"Wachet; denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt"
(Mt 24,42; vgl. auch die daran anschlie�enden Gleichnisse; Mt 24,43-51; 25,1-41).
S. auch: Zeugen Jehovas; Wachtturm-Gesellschaft; >Adventisten; Falsche Propheten.
Lit.: F. Graf-Stuhlhofer, Das Ende naht. Die Irrt�mer der Endzeit-Spezialisten, 1992; L. Gassmann, Zeugen Jehovas, 2000.
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de