Herrmann, Wilhelm (1846-1922) ist Lehrer sowohl von Rudolf Bultmann als auch von Karl Barth.
Es ist derjenige Theologe, der angesichts der Kritik am historischen Jesus immer mehr den Weg in die Erlebnisinnerlichkeit gesucht hat. Er sagte, dass es unm�glich sei, die Spur der Erdentage eines Menschen, der die gewaltigste menschliche Wirkung ausge�bt hat, g�nzlich verwischt zu sehen. In der Bibel wird davon berichtet und da werden die allgemeinsten Z�ge der einhelligen �berlieferung von ihm erkennbar. Aber sie haben in sich selber keine ma�gebliche Bedeutung. Nach Herrmann (Der Verkehr des Christen mit Gott, 1886, S. 58 f.) wird der Theologe die Richtigkeit der �berlieferten Einzelz�ge daran erkennen, wieweit er diese als Elemente derjenigen Wirklichkeit ansehen kann, in der er selber lebt. Entscheidend ist also f�r Herrmann die Wirklichkeit, in der wir selber leben, nur insoweit k�nnen wir etwas von Christus erkennen. Herrmann spricht von "H�llen der �berlieferung". Nach seiner Ansicht werden wir von dieser historischen �berlieferung frei, indem aus den "H�llen der �berlieferung" das innere Leben Jesu uns ber�hrend und �berw�ltigend durchbricht. In diesem Erlebnis dr�ngt sich uns die "geschichtliche Wirklichkeit Jesu" als etwas an uns gegenw�rtig Wirksames auf.
Zu Lebzeiten Herrmanns ist der "historische Jesus", d.h. seine Erkennbarkeit aufgrund von historischen Ereignissen, sehr kritisiert worden. Albert Schweitzer hat schlie�lich in seinem bekannten Werk "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" (1906/1913) das Scheitern der Leben-Jesu-Forschung behauptet: das Bild des historischen Jesus sei nicht erhebbar, was aber nicht ausschlie�e, dass er existiert habe. Herrmann nun trat bereits zuvor � angesichts der jahrzehntelangen Debatte �ber den "historischen Jesus" � den Weg in die Innerlichkeit an. Im Erlebnis, im gegenw�rtigen Sein, in der Wirklichkeit, die sich uns jetzt entfaltet, etwa durch Erkenntnis des inneren Lebens Jesu werden wir laut Herrmann davon angesprochen � und da brauchen wir uns jetzt nicht mehr unbedingt mit den historischen Aussagen zu besch�ftigen. Diese geben uns nur ein allgemeines Bild. Ganz ablehnen kann Herrmann die historischen Aussagen in der Bibel auch nicht, weil wir ja keine andere Quelle �ber das Leben Jesu besitzen. Aber das sind nur allgemeine Z�ge; wesentlich ist das innere Erleben, in dem jetzt die Gestalt Jesu an uns herantritt. Man kommt bei Herrmann �ber Wahrscheinlichkeitsurteile nicht hinaus, was die Basis der Heiligen Schrift angeht. Christus ist f�r ihn wesentlich als erlebbare Wirklichkeit. Das "Christuserlebnis" ist ein zentraler Ausdruck bei ihm. Nicht Jesu Worte, Taten oder sein Schicksal geh�ren in das Evangelium, sondern das, was der heutige Mensch an ihnen erlebt. Die Konsequenz daraus ist, dass es darum geht, die Wirkungsm�chtigkeit des Wortes anzuerkennen und dann die Gegenwarts- und Erlebniserfahrung zu machen.
F. Hohmeier weist in seiner Dissertation "Das Schriftverst�ndnis in der Theologie Rudolf Bultmanns" (1964) nach, dass diese Sicht Herrmanns mit der Erkenntnistheorie Hermann Lotzes zusammenh�ngt. Hohmeier f�hrt � an Albrecht Ritschl ankn�pfend � aus, dass es in der Geschichte (neben vielen anderen) drei grundlegende, wesentliche Erkenntnistheorien gibt:
Die erste Erkenntnistheorie stammt von Plato, die zweite von Kant und die dritte von Lotze. Plato ging davon aus � und seine Ansicht hat sich in der Scholastik fortgesetzt � dass hinter den ver�nderlichen Kennzeichen der Dinge, hinter den Ph�nomenen, eine unver�nderliche Uridee steht, ohne die das Ph�nomen weder sein noch erkannt werden k�nnte. In �hnlicher Weise hat Goethe das Prinzip der Urpflanze postuliert: die Vorstellung, dass hinter den sichtbaren einzelnen individuellen Pflanzen ein unsichtbares Urprinzip, eine Urpflanze stehe, die nun die Grundquelle der einzelnen Pflanzen, Formen und Entfaltungen sei. F�r dieses monistische Erkenntnismodell ist nur ein einheitliches Urprinzip vorhanden. Die ver�nderlichen Kennzeichen sind nur Ausdrucksformen des Dinges selbst. Diese Theorie ist aber unhaltbar, meint etwa der Kantianer Albrecht Ritschl, der Lehrer wiederum von Herrmann, denn ein ruhendes Ding kann uns nicht in seinen uns erscheinenden Merkmalen affizieren (ber�hren). Das bedeutet, dass dieses Ding eben nicht, wenn es wirklich in sich ruht, sich in den Merkmalen entfalten k�nne.
Das zweite Erkenntnismodell nun ist die Auffassung von Immanuel Kant, n�mlich dass sich die Verstandeserkenntnis nur auf die Erscheinungen, auf die Ph�nomene beschr�nkt, w�hrend das ihnen zugrunde liegende Ding an sich f�r uns unerkennbar ist. Deshalb gibt es Grenzen der Erkenntnis f�r Kant. In seiner "Kritik der reinen Vernunft" wollte er das Wissen aufheben, um f�r den Glauben Platz zu bekommen. Er schrieb:
"Das h�chste Wesen bleibt also f�r den blo� spekulativen Gebrauch der Vernunft ein blo�es, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schlie�t und kr�net, dessen objektive Realit�t auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann."
Kant sah einen gewissen Dualismus zwischen dem Erkennbaren (das, was wir wissen k�nnen) und der Glaubenssph�re (das, was �ber das Erkennbare hinausgeht). Der einzige Gottesbeweis, der f�r ihn blieb, etwa gegen�ber von Gottesbeweisen bei Thomas von Aquin, ist der moralische, also die Annahme, dass wir Gott als den Tugendgeber erkennen k�nnen, was Kant aus dem Sittengesetz folgert. Das Ding an sich ist aber unerkennbar. Nur die Ph�nomene k�nnen wahrgenommen werden. Aber auch das ist unzureichend, weil das Ding an sich ja eben verborgen bleibt. Und nun ging Lotze einen Schritt weiter. Er behauptete, dass wir "in den Erscheinungen, welche in einem begrenzten Raume sich in begrenztem Umfang und bestimmter Ordnung ver�ndern, das Ding als die Ursache seiner auf uns wirkenden Merkmale, als den Zweck, dem dieselben als Mittel dienen, als das Gesetz ihrer constanten Ver�nderungen" erkennen. Lotze wollte im Unterschied zu Kant sagen, dass wir das Ding an sich doch erkennen k�nnen, und zwar als die Ursache seiner auf uns wirkenden Merkmale.
Wichtig sind hier die Begriffe "wirkend" und "Merkmal". "Wirkend", das ist der aktualistische Ansatzpunkt in der Wirkung, in dem das Ding an sich etwas bewirkt, sprich: Wir erkennen Gott nur, indem er an uns handelt. Wir erkennen Gott nur, indem er an uns wirkt. Die Merkmale sind dann die Ph�nomene. Es gibt Ontologie (Lehre vom Sein) nur als Ph�nomenologie (Lehre von den Erscheinungen). Wir k�nnen das Sein nur �ber die Ph�nomene des Seins oder des urspr�nglichen Dings an sich in seinen Wirkungen wahrnehmen und erkennen. Und diese Wirkungen �bt das Ding an sich, sprich "Gott", am Menschen aus. Deshalb wird "Gott nur im Menschen erkannt", ein bekannter Ausspruch des Herrmann-Sch�lers Rudolf Bultmann. Dieser aktualistische Gottesbegriff findet sich bei Lotze, bei Herrmann und auch bei B.: Gottes Sein und Wirken sind eins. Au�erhalb des Wirkens Gottes kann von seinem Sein nicht geredet werden. Hinter diesem Ansatz steht ein aktualistischer Gottesbegriff. Gottes Sein und Wirken sind eins. Au�erhalb des Wirkens Gottes kann von seinem Sein nicht geredet werden. Herrmann formuliert es so in seinem Buch "Die Wirklichkeit Gottes" (Seite 42):
"Von Gott k�nnen wir nur sagen, was er an uns tut."
Das ist nur teilweise richtig. Das Wort "nur" w�rde ich einklammern. "Von Gott k�nnen wir sagen, was er an uns tut, aber auch, was er an sich tut", ist hingegen zutreffend. Was er an der Welt tut, was er durch seine Sch�pfung und Erl�sung getan hat und was er in der Weltvollendung tun wird, sicherlich f�r den Menschen, aber nicht nur am Menschen. Dies ergibt sich aus dem Gesamtkontext der Heiligen Schrift in fast jedem Kapitel. Es ist nat�rlich ein richtiger Gedanke dabei, denn Gott ist an sich unzug�nglich, wenn er sich nicht offenbart.
Nur, die Frage ist: Wo und wie offenbart sich Gott?
Offenbart er sich nur in unserer Existenz � oder offenbart er sich auch durch Wunder, durch Engel, durch Himmelfahrt, durch H�llenfahrt, durch die Auferstehung Jesu usw.? Ist die Offenbarung beschr�nkt auf die Existenzerfahrungen des Menschen oder gibt es auch transzendente Einbr�che in diese Welt, die eben doch nicht kausalmechanistisch und deterministisch geschlossen ist?
S. hierzu ausf�hrlicher: >Offenbarung; Glaube und Verstehen.
Lit.: W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, 3. Aufl. 1896; Die Wirklichkeit Gottes, 1914. � Kritisch: Das Schriftverst�ndnis in der Theologie Rudolf Bultmanns, 1964.
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de