Hildegard von Bingen (1098-1179), eine der bedeutendsten Pers�nlichkeiten des Mittelalters, erste deutsche Naturforscherin und Mystikerin, war von Kindheit an vision�r begnadet. Ihre bedeutendsten mystischen Werke sind: Liber Scivias, Liber vitae meritorum und Liber divinorum operum. Diese B�cher wurden von Hildegard unter Antrieb einer "inneren Stimme" herausgegeben, die ihr befahl, das Geschaute zu offenbaren. Die medizinischen und naturwissenschaftlichen Schriften Hildegards, so das Ergebnis heutiger Forschung, sind nicht vision�ren Ursprungs, sondern Sammlungen mittelalterlichen Wissens und deshalb nicht nur �berholt, sondern z.T. falsch und als therapeutische Anleitungen gef�hrlich. Die medizinische Schrift Hildegards Causae et Curae ist nur als Handschrift aus dem 13. Jahrhundert erhalten, liegt also nicht im Original vor. Das f�lschlich Hildegard zugeschriebene Buch eines unbekannten mittelalterlichen Verfassers "Von den Steinen" wurde erst im 16. Jahrhundert (1533 und in 2. Auflage 1544, Augsburg) ihrem Werk "Physica" (Naturkunde) hinzugef�gt. In 26 Kapiteln werden Entstehung, Qualit�t, Wirkungen und Anwendungsm�glichkeiten von Steinen beschrieben. So soll z.B. der Magnetstein aus dem Speichel giftiger Schlangen und der Ligurit bzw. Titanit aus Luchs-Urin entstanden sein. Viele Aussagen widersprechen dem christlichen Weltbild Hildegards und m�ssen als magisch und abergl�ubisch verworfen werden. Der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges fasst nach gr�ndlichen Recherchen zusammen:
"Angesichts der zunehmenden Aktivit�ten einer sog. �Hildegard-Medizin� haben wir festzustellen, dass die naturkundlichen Schriften nat�rlichen Erfahrungen entstammen und dem Wissensstand der damaligen Zeit entsprechen... Die Versuche, eine durchaus berechtigte Naturheilkunde als �Hildegard-Medizin� in die �rztliche Praxis und in den Bereich der Apotheke zu bringen, entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage" (Hildegard von Bingen, S. 65).
In neuer �bersetzung (1985) machten die beiden �rzte Dr. Gottfried Hertzka und Dr. Wighard Strehlow das Buch des anonymen mittelalterlichen Verfassers als "Edelsteinmedizin der heiligen Hildegard" vor allem Katholiken bekannt, um es sp�ter in der Esoterik-Szene gewinnbringend zu vermarkten (Bauer-Verlag, Freiburg). Als w�rtlich von Gott diktiert � und darauf legen beide Herausgeber wert � soll Hildegard u.a. folgende Empfehlung gegeben haben:
"Ehe ein Mensch zu Bett geht, trage er allabendlich einen Achat offen (auf der flachen Hand liegend) kreuzweise durch das Haus, der ganzen Hausl�nge nach und auch in der ganzen Breite. Dort werden Diebe ihr Handwerk weniger nach Belieben aus�ben und beim Stehlen weniger Erfolg haben" (S. 21, 16. Auflage, a.a.O.).
Diese Anweisung sei "sicher hildegardisch", betonen die �bersetzer des mittelalterlichen Edelsteinbuches.
Nur "peinlich genaues Befolgen der Vorschriften f�hrt zum Erfolg",
so vor allem die therapeutischen, da sie ja Offenbarungen Gottes seien:
"Das mystische Diktat stellte Hildegard die Wortwahl nicht frei." So mache der Achat "geschickt und feinf�hlig und klug im Gespr�ch, weil der Achat aus Feuer, Luft und Wasser geboren wurde" (ebd. S.18).
Ein Epileptiker k�nne geheilt werden, wenn
"er einen Achat drei Tage lang ins Wasser legt, wenn der Mond eben voll geworden ist. Am vierten Tag nehme er ihn wieder heraus und koche dieses Wasser leicht, ohne dass es aufwallt. Dieses Wasser soll er aufheben und damit alle Speisen kochen, die er verzehrt, bis der Mond ganz abgenommen hat" (ebd. S.19).
Lebensgef�hrlich sind Therapien, die einen rechtzeitigen Arzt- Besuch verhindern, wie z.B.:
"Wo eine Spinne den Menschen an einer K�rperstelle fixiert, da streiche man den Stein (Amethyst) �ber die Biss-Stelle, und er wird geheilt werden."
Hertzka / Strehlow kommentieren:
"Sehr wohl ist auch an einen Zeckenbiss zu denken, dessen Gef�hrlichkeit in den letzten Jahren in zunehmendem Ma�e erkannt worden ist. Unseren Wanderern in Wald und Flur kann man nur raten, sich mit einem Amethyst bewaffnet auf den Weg zu machen. Die Zecken, die haupts�chlich im Unterholz auf ihre Opfer lauern, geh�ren n�mlich zu den Gliederf��lern wie die Spinnen auch" (ebd. S.28).
Wer sich aber auf einen Stein verl�sst, f�r den wird jede Hilfe gegen die gef�hrliche Zecken-Infektion wie Hirnhautentz�ndung oder Borreliose zu sp�t kommen. Zahlreiche andere Beispiele beweisen mangelndes Verantwortungsbewusstsein dem Kranken gegen�ber:
"Sogleich, wenn ein Mensch Gift a� oder trank, schabe er vom Beryll etwas Pulver in (Quell-) Brunnenwasser oder auch in anderes Wasser und trinke das sogleich. So an f�nf Tagen einmal t�glich n�chtern getrunken, wird er das Gift entweder durch Brechreiz ausspeien oder es l�uft durch den Magen hindurch und verl�sst ihn hinten (mit dem Stuhlgang)" (ebd. S.47).
Theologisch v�llig unhaltbar sind therapeutische Empfehlungen zur Heilung von Besessenheit:
"Alle Edelsteine sind ihrer Natur nach dem B�sen feind",
soll Hildegard in der Einleitung zu "ihrem" Edelsteinbuch geschrieben haben (ebd. S.10):
"Wenn ein Mensch vom Teufel besessen ist, so gie�e man ein wenig Wasser �ber den Chrysopras und spreche dabei: �O Wasser, ich gie�e dich �ber diesen Stein mit jener Macht, durch welche Gott die Sonne mit dem Lauf des Mondes verkn�pfte.� Und dieses Wasser sollst du dem Besessenen zu trinken geben .... An jenem ganzen Tag wird der Teufel in ihm gequ�lt und immer schw�cher und �bt dann seine Kr�fte in ihm nicht so aus, wie er es vorher getan. So verfahre an f�nf Tagen. Am 5. Tag aber mache mit dem Wasser ein d�nnes Br�tchen, ein D�rrbrot, und gib es ihm zu essen, auf welche Weise du es kannst. Wenn der Luftd�mon kein b�sartiger ist, wird er von jenem Menschen weichen."
Auf folgende Weise k�nne man erkennen, ob der Luftd�mon harmlos oder b�sartig sei: "Wenn der Mensch gerne lacht und andere Menschen freundlich, d.h. holdselig ansieht, auch wenn er zwischendurch ab und zu mit den Z�hnen knirscht und griesgr�mig ist, dann ist dort ein gutartiger Luftgeist da ...." (ebd. S.67f).
Abgesehen davon, dass es keine harmlosen oder gar "gutartigen" D�monen gibt, wird solcher "Exorzismus" zum magischen Hokuspokus, deutlicher noch in folgendem Beispiel:
"Nimm ein noch warmes Roggenbrot und schneide in die obere Kruste das Zeichen des Kreuzes, ohne aber das ganze Brot durchzuschneiden. Dann nimm den Hyazinth, und ziehe den Stein diesen Schnitt entlang von oben nach unten, und sprich dabei: �Gott, der die ganze Edelsteinherrlichkeit dem Teufel abnahm, als dieser seinen Auftrag �bertrat, befreie dich, N.N., von aller Verblendung und Zauberspr�chen und l�se von dir das Leiden dieser Verwirrtheit! � Und nochmals ziehe mit diesem Stein in der Quere �ber jenes warme Brot und sprich: �Wie der Glanz, den der Teufel urspr�nglich besa�, wegen seiner �bertretung ihm genommen wurde, so werde auch diese Sinnesverwirrung, die dich, N.N., durch mancherlei Blendwerk und mannigfache Verzauberung plagt, von dir genommen und falle von dir ab�....Wenn du das oft machst, wird er geheilt werden" (ebd. S.79f).
"Wenn ein Mensch von einem b�sen Geist besessen ist, soll ein anderer Mensch den Saphir in Wachs legen und das Wachs in Leder einn�hen und ihm den Lederbeutel um den Hals h�ngen und sprechen: �O du sch�dlicher Geist, weiche sofort von diesem Menschen, so wie bei deinem ersten Sturz die Herrlichkeit deines Glanzes sofort von dir abfiel.� Und der b�se Geist wird sehr geplagt werden und wird von diesem Menschen weichen, au�er wenn es ein ganz b�ser, ganz schlimmer Geist ist ..." (ebd. S.117).
In allen "Exorzismus"-Beispielen der sog. Hildegard-Edelstein- Medizin ist kein einziges Mal der Name Jesus erw�hnt. An seine Stelle sind Steine und Beschw�rungsformeln gesetzt, tote Steine und Magie. Indem Hertzka und Strehlow das mittelalterliche Buch der Steine als g�ttliches Diktat vorstellen, entziehen sie seinen Inhalt nicht nur jeder kritischen Hinterfragung und �berpr�fung, sie stellen das esoterische Buch auch gleichwertig neben die Autorit�t der Bibel. Zahlreiche "Hildegard-Freunde" werden dadurch zu magischen und abergl�ubischen Praktiken verf�hrt und geraten auf den Irrweg esoterischer Medizin.
S. auch : Aberglaube; Okkultismus; Magie.
Adelgunde Mertensacker
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de