Erwählungslehre bei Karl Barth: Eine besondere und sehr einflussreich gewordene Form der – besonders im >Calvinismus betonten und verbreiteten – Erwählungslehre hat der reformierte Theologe Karl Barth, Hauptvertreter der >Dialektischen Theologie entwickelt. Um diese zu verstehen, müssen wir uns erst den Lehren Barths über "Schöpfung und Bund", "Evangelium und Gesetz" und "Das Nichtige" zuwenden.
Barths Schöpfungslehre ist untrennbar mit der Lehre von den Bundesschlüssen Gottes mit den Menschen verbunden. Den Zusammenhang drückt er – insbesondere in KD III/1, § 41 – in folgenden Gedanken aus: Die Schöpfung ist der äußere Grund des Bundes, und der Bund ist der innere Grund der Schöpfung. Die Schöpfung hat den zeitlichen Vorrang vor dem Bund, der Bund hat den sachlichen Vorrang vor der Schöpfung. Der erste "Schöpfungsbericht" der Genesis handelt von der Schöpfung, der zweite vom Bund, den Gott mit den Menschen schließt.
Gemeint ist folgendes:
Der Tatsache, dass Gott die Welt geschaffen hat, kommt der zeitliche Vorrang vor dem Bund zu. Dass aber der Bund schon vor Grundlegung der Welt von Ewigkeit her von Gott bestimmt war, das hat den sachlichen Vorrang vor der Schöpfung. Schon bevor die Welt geschaffen war, hat Gott den Bund seiner ewigen Erwählungsgnade gelegt. Wir spüren hier den Einfluss der calvinistischen Erwählungslehre auf Barth.
Nach Barth erstellt die Schöpfung den Raum für die Geschichte des Gnadenbundes. Die Schöpfung ist gewissermaßen das "Vorwort" der Gnadengeschichte – räumlich und zeitlich gesehen. Die Schöpfung ist für Barth ein zeitliches Ereignis, wenn auch außerhalb der Historie. Barths Wertung der biblischen Schöpfungsgeschichte ist zwiespältig. Er hält sie zwar nicht für eine reine Erfindung, ein "Märchen" (wie radikale Vertreter der historisch-kritischen Methode), aber dennoch interpretiert er sie – einer gemäßigten Bibelkritik verhaftet – als "heilige Sage von Gott dem Schöpfer" unter Zuhilfenahme menschlicher Phantasie, allerdings unter Lenkung des Heiligen Geistes.
Der Bund nun, der schon vor Grundlegung der Welt von Gott beabsichtigt war, ist der innere Grund der Schöpfung. Die Schöpfung wurde notwendig, um den Bund zu verwirklichen. Gott erschafft die Welt und den Menschen, schließt einen Bund mit ihm und betätigt die Freiheit seiner Liebe in der Geschichte mit den Menschen.
Barth schreibt:
"War die Schöpfung der äußere Grund des Bundes, so war er ihr innerer Grund. War sie seine formale, so war er ihre materiale Voraussetzung. Hatte sie den geschichtlichen, so hatte er den sachlichen Vorrang" (KD III/1, 261f.).
Mit dieser prädestinatianischen (vorherbestimmenden) Sicht der Schöpfung legt Barth den Grund für seine eigentliche Erwählungslehre
Bei Martin Luther lautete die Reihenfolge: zuerst das Gesetz, dann das Evangelium. Das Evangelium setzt das Gesetz und seine Verkündigung voraus. Das Gesetz fordert und klagt an, das Evangelium spricht die Gnade und Vergebung zu. Das Gesetz tötet, das Evangelium macht lebendig. Dementsprechend wurde bei Luther und seinen Nachfolgern ein dreifacher Gebrauch des Gesetzes unterschieden:
1. der politische Gebrauch (usus politicus),
der das Zusammenleben der Menschen im Staat regelt und ermöglicht und zum Gebiet der Schöpfungsordnungen gehört ("Riegel");
2. der überführende oder anklagende Gebrauch (usus elenchticus),
der den Menschen von seiner Schuld und Unfähigkeit überführt, das Gesetz Gottes zu halten, und ihn für das Evangelium vorbereitet ("Spiegel"); und
3. – namentlich vor allem bei Melanchthon – der dritte Gebrauch (tertius usus) des Gesetzes,
der dem Menschen Regeln für sein Leben als Christ an die Hand gibt ("Regel").
Barth kehrt die Reihenfolge Luthers um: nicht Gesetz und Evangelium, sondern: zuerst das Evangelium, dann das Gesetz. Das Gesetz ist für ihn eine Form des Evangeliums. Gottes Gnade ist größer als sein Zorn, das Evangelium ist stärker als das Gesetz. Die Umkehrung der klassischen Reihenfolge hängt mit der inhaltlichen Vorordnung des Bundes vor der Schöpfung zusammen (s.o.): Zuerst kommt die Gnade in Form des Bundesschlusses Gottes – und dann erst tritt die Schöpfung in Kraft, welche Abweichungen vom Bund enthält, die das Gesetz notwendig machen. Ethik ist Ethik der Gnade. Der Mensch soll tun, was der im Evangelium verkündigten Gnade entspricht.
Barth geht aus vom Apriori (Vorgeordnetsein), ja der Übermacht der Gnade über den Zorn Gottes und über die Unbußfertigkeit des Menschen. Für ihn verschwimmt die Scheidelinie zwischen bekehrten und unbekehrten Menschen sehr stark, die in der Heiligen Schrift durchgehend festgehalten wird (vgl. Hes 3,17ff.; Mt 7,13f.; Apg 3,19; 1. Thess 1,9 u.a.). Der Unbekehrte steht nach biblischer Aussage nicht unter der Gnade, sondern unter dem Zorn Gottes, auch wenn Gottes Gnadenangebot für ihn bereit liegt. So lange er dies aber nicht für sich in Anspruch nimmt, bleibt er unter dem Zorn und Urteil des Gesetzes Gottes (usus elenchticus) – und dieses Urteil lautet: Tod (Röm 6,23). Sicherlich – und darin liegt das berechtigte Anliegen Barths begründet – besitzt die Gnade Gottes und das Evangelium eine Übermacht in dem Sinne, dass
"Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Tim 2,4).
Wo ein Mensch das Evangelium annimmt, kommt diese Übermacht zum Zuge. Aber diese Übermacht drängt sich niemandem dergestalt auf, dass die Ablehnung des Evangeliums mit ihren Folgen (Zorn, Gericht, Tod) einfach ausgeblendet wäre. Der Zorn Gottes ist keineswegs nur eine andere Form der Gnade – er kann das auch sein -, aber in seiner Ursache und Auswirkung ist er bittere Realität. Wo eine Übermacht der Gnade und des Evangeliums im Stil Barths postuliert wird, droht die Gnade zu einer "billigen Gnade" zu werden, der die Gegenseite der Gesetzeswirklichkeit und der Folgen der Gesetzesübertretung fehlt. Auf diese Gefahr hat Dietrich Bonhoeffer in seiner Schrift "Nachfolge" hingewiesen. Die Reihenfolge "zuerst das Evangelium, dann das Gesetz" mag im biblischen Sinn vielleicht als Erkenntnisfolge (noetisch) stehen gelassen werden: Der vom Evangelium, von der Gnadenbotschaft Erfasste erkennt plötzlich seine Schuld als Ungenügen an Gottes Gebot. Aber als Seinsfolge (ontisch) bleibt die Reihenfolge "zuerst das Gesetz, dann das Evangelium" unumkehrbar. Bei Barth findet sich eine Überbetonung des Gesetzesaspektes, den die Reformatoren als "tertius usus" bezeichnet hatten: das neue Leben aufgrund der bereits erfahrenen Erlösungswirklichkeit. Dabei tritt aber der erste und zweite Gebrauch des Gesetzes zurück und es kommt zu einer Vereinseitigung.
Das Nichtige ist für Barth das, was gewöhnlich bezeichnet wird als Sünde, Übel, Tod, Hölle und Teufel. Es bezieht sich somit sowohl auf die Hamartiologie (Lehre von der Sünde) als auch auf die Dämonologie (Lehre vom Teufel und seinen Dämonen). Warum spricht Barth in diesem Zusammenhang von dem "Nichtigen"? Alle diese Dinge – Sünde, Hölle, Tod, Teufel – sind für Barth Fremdkörper in Gottes Vorsehung und ewigem Bundesschluss. Sie sind Elemente, denen Gott die Wohltat seiner Vorsehung verweigert. Das Nichtige ist der Feind, der vom Schöpfer und Geschöpf verschieden ist, das Negative. Es ist die Wirklichkeit, die Jesus am Kreuz besiegt hat. Es ist nichtig infolge des Sieges Jesu.
Für Barth ist das Nichtige durchaus ein wirklicher Angreifer Gottes, wirkliches Übel, wirkliche Sünde, wirklicher Tod, wirkliche Hölle, wirklicher Teufel, aber in seiner vernichtenden und verdammenden Auswirkung durch den Tod Christi überwunden. Das Nichtige ist also nicht einfach nichts, sondern es hat eine Wirklichkeit, aber nur in dem Zusammenhang des Erwählungshandelns Gottes – und dadurch wird es eben zum Nichtigen, weil es in der Erwählungstat Gottes verworfen ist und keine Wirklichkeit im Sinne einer Macht über den Menschen mehr besitzt.
Das Nichtige ist für Barth die Negation der Gnade – und dadurch das Böse und das Chaos, indem es diese Gnade verweigert. Barth kann es auch bezeichnen als das Widerliche, Störende, Abnormale. Es ist nie ein Naturgeschehen oder Naturzustand, sondern die Wirklichkeit, die letztendlich doch keine Wirklichkeit mehr besitzt, die nämlich keinen Bestand hat, weil sie keinen Bund mit Gott hat. In Christus ist sie vergangen. Das Nichtige ist noch nicht vernichtet, aber sein Reich ist zerstört – und deshalb hat der von der Erwählung ergriffene Mensch die Freiheit, das Nichtige für abgetan zu halten (vgl. v.a. KD III/3, 403ff.).
Nach Barth ist das Nichtige eine dritte Existenzweise:
"nicht wie Gott und nicht wie das Geschöpf, aber von Gott selbst ernstgenommen".
Es ist
"ein Element der Geschichte zwischen Gott und dem Geschöpf". "Der ontische Zusammenhang, in welchem das Nichtige wirklich ist, ist das auf Erwählung begründete Handeln Gottes: ... Gott erwählt und eben damit verwirft er auch, was er nicht erwählt ... Er sagt Ja und eben damit auch Nein zu dem, wozu er nicht Ja sagt ... Er ist Herr zur Rechten und zur Linken. Nur von da auch ist auch das Nichtige. Aber von da aus ist es" (a.a.O., 404f.).
Kritik: Solche Entgegensetzungen erinnern sehr stark an Johann Gottlieb >Fichtes Gegenüberstellung von Ich und Nicht-Ich. Das Ich, das sich selber gesetzt hat (vgl. Descartes: "Ich denke, also bin ich") setzt sich die Welt als das Nicht-Ich gegenüber, mit dem es dann in Beziehung treten kann. Oder bei Barth: Was Gott in der Schöpfung kraft seines Bundes grundgelegt hat, tritt dem Nichtigen gegenüber und wird durch dieses bedroht, um es schließlich zu überwinden. Das Nichtige erscheint hier wie ein philosophisches Prinzip, das in dialektischer Gegensatz-Dynamik aufgehoben ist kraft der Erwählung (auch wenn Barth einmal bemerkt, dass das Nichtige als das Chaos selbst die Dialektik sprengt; KD III/3, S. 408). Das Nichtige ist ein Begriff, der nach meiner Beurteilung für Barth von der Vorstellung her definiert wird, dass alles nur in actu (im Handeln) Realität besitzt. Der Aktualismus kommt auch hier zum Tragen (s. Dialektische Theologie). Das Nichtige ist für ihn keine statische, faktische Größe in dem Sinne, dass es etwas Festes, Wesenhaftes sei, sondern es ist nur in actu wirklich – und das heisst: in seinem Überwundensein durch die Erwählung und den Bund.
Gehen wir einmal von dem Begriff "Nichtiges" weg und auf die von Barth darin zusammengefassten ursprünglichen Begriffe wie "Sünde", "Hölle" und "Teufel" zurück, so zeigen sich allerdings gravierende Unterschiede im Vergleich zum biblischen Gesamtzeugnis. Sicher ist es richtig, dass Jesus durch seinen stellvertretenden Opfertod am Kreuz die Macht der Sünde, der Hölle, des Teufels und des Todes überwunden und in diesem Sinne "genichtet" hat. Aber dieser Sieg wird nur für diejenigen Menschen wirksam, die ihn im Glauben für sich in Anspruch nehmen. Alle anderen bleiben im Machtbereich der Sünde, des Teufels und des Todes. Für diese sind diese Mächte deshalb keineswegs "nichtig", sondern eine höchst grausame Realität. Und auch der wiedergeborene Christ wird noch oft genug von diesen Mächten angefochten, wenn er aus dem Schutzraum der Gnade heraustritt (vgl. Joh 3,15-21; 3,36; 8,24; 1. Petr 5,8f. u.a.). Auch wenn man sich einerseits darüber freuen kann, wie Barth den Sieg und die Macht Jesu Christi groß macht, so geht dieser Siegesruf bei Barth doch mit einer Verharmlosung der >Sünde, der Hölle, des >Todes und der dämonischen Mächte einher. Bei Barth scheinen die Dämonen eher ein philosophisches Prinzip (z.B. "die unmögliche Möglichkeit"; KD III/3, S. 405) als eine geschöpflich-personale Wirklichkeit gefallener Engel (Eph 6,10ff.; 2. Petr 2,4; Jud 6 u.a.) zu sein. Und die Sünde wird in grober Verharmlosung als "Zwischenfall" bezeichnet, der nur "zur Linken" Gottes und von seinem "Nein" her existiert (KD III/3, S. 347ff.). Diese Verharmlosung hängt zusammen mit Barths Erwählungslehre, der wir uns nun zuwenden.
Mit der Erwählungslehre sind wir im Kern von Karl Barths Denken angelangt. Hier – bei "Erwählung" und "Prädestination" – wird ein Bereich angesprochen, den wir als Menschen nie ganz ausloten können, der letztlich ein Geheimnis Gottes bleibt. Dennoch wurden und werden verschiedene Lösungsversuche vorgenommen, so auch bei Barth und dem für ihn vorbildhaften Calvin. Mit Barths revolutionärer Deutung der Erwählungslehre werden wir uns nun beschäftigen.
Barth knüpft in seiner Erwählungslehre an die Lehre Calvins von der doppelten Vorherbestimmung (gemina praedestinatio) an, aber deutet diese in umwälzender Weise neu. Calvin war davon ausgegangen, dass es nicht nur eine Erwählung zum Heil, sondern auch eine (negative) "Erwählung" – oder richtiger: Verwerfung – zur ewigen Verdammnis gibt. Die Menschheit war für ihn deutlich in zwei Gruppen geteilt. So schrieb er:
"Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluss einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluss ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu!" (J. Calvin, Institutio Christianae Religionis III,21,7).
Anders bei Karl Barth! Auch für ihn gibt es Erwählung und Verwerfung, aber die Verwerfung lädt Gott in Christus auf sich selbst – und dadurch wird sie aufgehoben. Christus ist der erwählende Gott und der erwählte Mensch zugleich. In Christus hat Gott die gesamte Menschheit erwählt und die Verwerfung aller stellvertretend auf sich selbst genommen. Die Verwerfung wird aufgehoben durch die Übermacht der im Kreuzesopfer Christi manifest gewordenen Gnade. Der präexistente Gottmensch Jesus Christus ist allerdings schon von Ewigkeit her der Grund allen göttlichen Erwählungshandelns. Der entscheidende Unterschied zu Calvin liegt bei Barth darin, dass für ihn die Erwählungsgnade so universal ist, dass sie die gesamte Menschheit umfasst und es für ihn somit keine Unterscheidung zwischen erwählten und verworfenen Menschen im Blick auf ihre ewige Bestimmung mehr gibt. Aus der augustinischen Auffassung, die Menschheit sei weit überwiegend eine "Masse der Verlorenheit" (massa perditionis), wird bei Barth das Gegenteil: sozusagen eine "Masse des Heils". Für Barth gibt es außer und neben Christus keinen Verworfenen. In Christus zeigt sich die Überordnung der Erwählung über die Verwerfung. In Christus zeigt sich die Übermacht der Gnade und die Ohnmacht der menschlichen Bosheit der Gnade gegenüber.
Die Barthsche Erwählungslehre hängt, wie schon angedeutet, untrennbar mit seiner Vorstellung von Schöpfung und Bund zusammen: Der Bund ist der innere Grund der Schöpfung, die Schöpfung ist der äußere Grund des Bundes. Bevor die Schöpfung (mit dem Sündenfall als "Zwischenfall") zur Verwirklichung kam, war von Ewigkeit her schon das Heil im präexistenten Christus und im göttlichen Bund beschlossen. Barth beruft sich auf Bibelstellen wie Eph 1,4:
"In ihm (Christus) hat er (Gott) uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten."
(Hier ist, wie der Kontext zeigt, jedoch nur von den "Heiligen" und "Gläubigen" und nicht von der Welt allgemein die Rede: Eph 1,1ff.).
Barth schreibt:
"Wollen wir wissen, was Gott für sich selbst wählte, indem er die Gemeinschaft mit dem Menschen erwählte, dann können wir nur antworten, er wählte unsere Verwerfung. Er machte sie zu der seinigen ... Er wählte unser Leiden ... zu seinem eigenen Leiden. So sehr ist seine Wahl Gnadenwahl, Liebeswahl, Wahl sich selbst hinzugeben, sich seiner selbst zugunsten des von ihm Gewählten zu entäußern und zu erniedrigen" (KD II/2, S. 179).
Glaube an Gottes Prädestination heisst "Glaube an die Nicht-Verwerfung des Menschen, Nicht-Glaube an seine Verwerfung" (a.a.O., S. 182). Anknüpfend an Anselm von Canterburys Werk "Cur Deus homo?" ("Warum wurde Gott Mensch?") charakterisiert Barth Gott als den Richter, der sich in seinem Sohn Jesus Christus stellvertretend für die Menschen selbst richten lässt, so dass es für diese keine Verdammnis mehr gibt. Dieses stellvertretende Sühnopfer Jesu Christi dehnt Barth in seiner Wirkung von den Gläubigen auf die gesamte Menschheit aus, indem er betont: "Es gäbe nur eine verlorene Welt und nur verlorene Menschen, wenn dieses wunderliche Gericht nicht Ereignis geworden wäre. Da es Ereignis wurde, bleibt uns nur übrig, zu erkennen und zu glauben, der ganzen Welt, allen Menschen, das zuzurufen: Nicht verloren!" (KD IV/1, S. 244).
Wenn die Erwählung und Verwerfung für alle schon vollzogen ist, dann geht es nur darum, dass der Mensch dies erkennt. Deshalb soll nach Barth die Gemeinde, welcher "die Heiligung ... schon de facto" (faktisch) widerfahren ist, der "ganzen Menschenwelt" deren schon "de iure" (rechtlich) geschehene Heiligung bekannt machen (a.a.O.). Insofern kennt Barth auch einen Auftrag zur Mission (s.u.). Der Mensch ist Erwählter aufgrund der Unmöglichkeit und Unwirklichkeit, der "Nichtigkeit" der satanischen Gottlosigkeit. Das Böse hat ja – in Christus betrachtet – "nur die Existenzmöglichkeit des Unmöglichen, nur die Existenzwirklichkeit des Unwirklichen ... nur die selbständige Macht der Ohnmacht" (KD II/2, S. 185). Damit der Mensch aber auch als Erwählter leben kann, braucht er die kirchliche Bekanntmachung seiner Erwählung. Die Erwählung und das Heil beruhen hier auf Seiten des Menschen in einem rein noetischen (erkenntnismäßigen), keinem ontischen (seinsmäßigen) Akt. Der Mensch soll erkennen, dass alles für ihn getan ist. Was geschieht allerdings mit den Menschen, welche die "de iure" schon am Kreuz geschehene Heiligung erkennen, aber nicht für sich annehmen? Bleibt ihnen die – wenn auch schreckliche – Möglichkeit, zum Erwählungshandeln Gottes "nein" zu sagen? Betrachtet man Barths Gesamtkonzept, dann sieht man, dass ein solches letztes "Nein" eine innere Unmöglichkeit ist. Es widerspräche der vor Grundlegung der Welt von Gott beschlossenen Erwählung. Selbst bei Judas Ischarioth, dem Verräter Jesu, bleibt es für Barth unsicher, ob er erwählt oder verworfen ist. Barths Aussagen hierzu sind von einer kaum zu überbietenden Dialektik geprägt.
So schreibt er: Gott will,
"dass der Verworfene glaube und als Glaubender ein erwählter Verworfener werde. Er hat vor ihm keine selbständige Existenz als Verworfener; er ist von ihm nicht dazu bestimmt, nur ein Verworfener zu sein, sondern vielmehr dazu, sich sagen zu lassen und selber sagen zu dürfen, dass er ein erwählter Verworfener ist" (KD II/2, S. 563).
Wegen ihrer universalistischen Tendenz hat Barth Erwählungslehre – und ich denke zu Recht – viel Kritik erfahren. Ist Calvins Auffassung von der doppelten Prädestination auf der einen Seite zu schroff und macht das Gnadenhandeln Gottes, der sich seiner Geschöpfe erbarmt, zu klein (vgl. Ps 103,8; Mi 7,19; Lk 6,36; Jak 2,13; 5,11 u.a.), so nimmt Barth auf der anderen Seite den Zorn und das Gerichtshandeln Gottes nicht ernst genug. Nicht ohne Grund wurden ihm Tendenzen zur >Allversöhnung vorgeworfen, die er zwar nicht explizit lehren wollte, auf die aber sein System in letzter Konsequenz hinausläuft. Die Bestreitung der Allversöhnung hängt damit zusammen, dass Barth immer wieder die Freiheit Gottes und seines Gnadenhandelns betonen möchte. Ein "Gesetz der Allversöhnung" stünde hierzu im Widerspruch. Aber andererseits wird die Übermacht der Gnade so sehr von ihm hervorgehoben, dass Gott gar nicht mehr anders kann, als alle Menschen zu retten. Dies geht – trotz aller Dialektik – z.B. aus folgendem Zitat deutlich hervor:
"Die Kirche soll ... keine Apokatastasis (Wiederbringung aller Dinge, Allversöhnung; L. G.), sie soll ... aber auch keine ohnmächtige Gnade Jesu Christi und keine übermächtige Bosheit des Menschen ihr gegenüber predigen, sondern ohne Abschwächung des Gegensatzes, aber auch ohne dualistische Eigenmächtigkeit die Übermacht der Gnade und die Ohnmacht der menschlichen Bosheit ihr gegenüber" (KD II/2, S. 529).
Barths faktisch auf die Allversöhnung hinauslaufende Versöhnungslehre steht – wie die Allversöhnungs-Vorstellungen allgemein – im Gegensatz zu zahlreichen biblischen Aussagen von einer Scheidung zwischen Geretteten und Verlorenen und einer ewigen Verdammnis (z.B. Mt 3,12; 7,13; 13,42; 18,8; 23,33; 25,41.46; Mk 9,47f.; 16,16; Offb 14,10; 20,11-15; 21,8). Sicherlich wird der Heilswille Gottes ("alle sollen gerettet werden"; 1. Tim 2,4) und sein Wesen als "Liebe" (1. Joh 4,16) immer wieder betont. Aber auf der anderen Seite malt die Heilige Schrift unübersehbar das Schicksal derjenigen Menschen vor Augen, die sich gegenüber dem Heilswillen Gottes verschließen. Sicherlich gilt die Feststellung:
"Gott war in Christus und hat die Welt versöhnt mit sich selber."
Wenn aber alle automatisch – auch gegen ihren Willen – versöhnt wären, müsste der Apostel nicht unmittelbar darauf schreiben:
"So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!" (2. Kor 5,19f.).
Als abschließendes Votum zur – auch in pietistischen Kreisen verbreiteten und umstrittenen – Allversöhnungslehre seien folgende Sätze von Heinrich Jochums, dem langjährigen Präses der Evangelischen Gesellschaft in Deutschland, wiedergegeben:
"Gewiss lehnt er (Barth) die Wiederbringungslehre in den bekannten alten und neuen Ausprägungen mit den allerdings oft recht eigentümlichen spekulativen Sonderheiten ab. Aber die Eschatologie, auf die seine Theologie hinausläuft, liegt auf derselben Linie wie die Wiederbringungslehre ... Die Lehre Barths in der Ablehnung einer ewigen Verwerfung und eines Ewig-Verlorengehens ist zudem im Grunde weit radikaler als die der eigentlichen Vertreter der Apokatastasis und führt zu einer weit gefährlicheren Haltung als die auch in manchen pietistischen Kreisen verbreitete Allversöhnungslehre, bei der, wenn auch irrtümlich, wenigstens noch von Gerichten und besonderen Entscheidungen in 'Äonen` nach dieser Erdenzeit die Rede ist. Hier gibt es Karl Barth gegenüber nur ein hartes Nein" (Die grosse Enttäuschung, 53.55).
Wenn die Menschheit in das universale Erwählungshandeln Gottes hineingenommen ist und diesem unausweichlichen Ereignis nur noch die Erkenntnis des Erwähltseins folgen soll, dann hat dies gravierende Auswirkungen auf das Verständnis von "Mission". Mission im Sinne Barths bedeutet, dass die Tatsache des Erwähltseins denen mitgeteilt wird, die das noch nicht wissen. Es ist eine Verkündigung der Wissenden an die noch nicht Wissenden, aber bereits Erwählten. Ein bestimmter Sachverhalt, eine bereits gefallene Entscheidung wird denjenigen anvertraut, die über das ihnen widerfahrene Glück noch ahnungslos sind. Barth führt aus, dass kein Nicht-Christ – u
nd zwar "kein einziger unter ihnen, und wenn er sich als der erbittertste und verstockteste Gottlose gäbe und gebärdete"
– zur "Geistlosigkeit" verurteilt ist.
Vielmehr kann
"keine Abwendung, keine Revolte und Resistenz und Ungebühr des Nicht-Christen etwas ändern, dass auch er in der von Gott gut, nämlich als äußerer Grund des Bundes und so auch zu seinem Heil geschaffenen – mehr noch: in der in Erfüllung dieses Bundes, in Vollstreckung der Erwählung, in der auch er erwählt ist, in Jesus Christus versöhnten Welt, dass auch er als ein mit Gott Versöhnter existiert".
Der Geist "ist auch ihm verheißen. Er ist nicht einfach nicht sein Empfänger, Träger und Besitzer: er ist es noch nicht, indem er Jesus Christus noch nicht erkennt" (KD IV/3, S. 410). Also gilt es, das Erwählungshandeln Gottes in der Welt bekannt zu machen. Was aber geschieht mit denjenigen, welche die Heilsbotschaft nicht erreicht oder die sich ihr gegenüber verschließen? Sie existieren nach Barths Lehre dennoch als mit Gott Versöhnte. Eine ewige Verdammnis gibt es folglich für sie nicht.
Damit hat Barth der Mission im biblischen Sinn, der es um die Errettung solcher Menschen geht, die ohne die Heilsbotschaft von Jesus Christus verloren gehen, die Spitze abgebrochen. Die biblische Lehre fasse ich folgendermaßen zusammen: Auf Golgatha wurde das Heil für die ganze Welt erworben und grundgelegt. Aber wirksam wird das Heil nur für diejenigen, die es auch für sich im Glauben in Anspruch nehmen. Alle anderen gehen ewig verloren. Eine bloße Erkenntnis des Heils reicht daher nicht aus. Zum Erkennen muss die bewusste Glaubensentscheidung hinzutreten – nicht als menschliches Werk, sondern ermöglicht durch den souveränen Geist Gottes, dessen Handeln wir als Menschen nicht weiter hinterfragen können. Hier bewegen sich Luther ("Vom unfreien Willen") und auch Calvin – trotz mancher Anfragen auch an sie – viel eher in den Bahnen der Heiligen Schrift als Karl Barth mit seiner – im Grunde dem neuzeitlich-humanistischen Denken entsprechenden – Verharmlosung des göttlichen Verwerfungs- und Gerichtshandelns.
Treffend betont Waldron Scott in seiner Abhandlung über "Die Missionstheologie Karl Barths" (1977, 44):
"Das, was Professor Donald Bloesch den 'Barthschen Irrtum` nennt, ist die Aussage, dass die Welt bereits erlöst sei. Erlösung wird als etwas dargestellt, was in der Vergangenheit für jeden Menschen geschehen ist. Nicht nur die Möglichkeit, sondern die tatsächliche Wirklichkeit der Erlösung wurde auf Golgatha erworben. Dies ist jedoch eine allzu objektive und allzu pauschale Betrachtungsweise. Die der Bibel eher entsprechende Sicht ist die: Während Christus zwar durch seinen Sühnetod wirklich alles getan hat, was für die Erlösung nötig ist, so bleibt es doch die Aufgabe des Menschen, sich im Glauben und von Gottes Geist bewegt, darauf einzulassen. Folglich ist mehr als die bloße Bekanntmachung nötig. Ein Missionar oder Evangelist muss zu überzeugen versuchen."
Lit.: K. Barth, Kirchliche Dogmatik, 1937-1967. – Kritisch: L. Gassmann, Karl Barth, 1994; ders., Kampf um die Wahrheit, 1999.
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de