Der Begriff "Dialektische Theologie" weist hin auf den Begründer der Dialektik in der Neuzeit:
den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich >Hegel. Dialektik ist die Vorstellung, dass es unterschiedliche Stufen im Prozess der Wahrheitserkenntnis gibt, dass die Wahrheit aber im Fließen bleibt, indem das Wechselspiel zwischen Frage und Antwort zu immer neuen Konsensen führt, die wiederum durch neues Fragen aufgelöst werden können. In der These wird eine Behauptung aufgestellt. Die Antithese hinterfragt diese und stellt sich ihr entgegen. In der Synthese wird der Gegensatz von These und Antithese zu und in einer höheren Ebene "aufgehoben" (im doppelten Sinne dieses Wortes), jedoch nur, um als neue These wieder von einer Antithese hinterfragt zu werden. Diese Relativierung einer absoluten Wahrheit wird heute weithin vertreten und ist insbesondere durch die >Frankfurter Schule – etwa im Modell eines "herrschaftsfreien Diskurses" von Jürgen Habermas – gefördert und weiter entwickelt worden. Sie ist im Grunde schon sehr alt und kann bereits im Sündenfallbericht in der relativierenden Frage der Schlange gefunden werden.
"Sollte Gott gesagt haben?" (1 Mose 3,1)
Klassisch formuliert wurde sie bei dem griechischen Philosophen Heraklit, der behauptete:
"Panta rei (alles fließt, alles ist relativ)."
Der Begriff Dialektische Theologie wurde während der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts von unterschiedlichen Theologen wie R. Bultmann, F. >Gogarten und K. Barth geprägt. Sie gelangte insbesondere durch Barth zu bahnbrechender Bedeutung. Wie ist der Begriff "Dialektik" im Barthschen System zu verstehen? Wir betrachten hierzu seinen programmatischen Vortrag "Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie", den er am 3. Oktober 1922 vor 300-400 Freunden der liberalen Zeitschrift "Die christliche Welt" auf der Elgersburg in Thüringen hielt (abgedruckt in: K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, 1924, 156-178). Seinem Vortrag lag – keineswegs nur formal – das Hegelsche Modell von These, Antithese und Synthese zugrunde.
Barth führte aus, dass die eigentliche Bedrängnis des Theologen sein Auftrag sei, Gottes Wort im Menschenmund auszurichten. Die These lautet:
"Wir sollen als Theologen von Gott reden."
Die Antithese lautet:
"Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden."
Und das ist die Synthese, die Barth formuliert:
"Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben."
Doch gehen wir der Reihe nach vor.
Zunächst wendet sich Barth gegen die vordergründigen Antworten eines Kulturprotestantismus, der sich mit Fragen der Kultur, der Sittlichkeit, des Geisteslebens und der Religion befasst. Das sei aber nicht das Wesentliche. Nein, der eigentliche Auftrag der Theologie liege jenseits dieser vordergründigen Dinge und Lösungsversuche – in der Beantwortung der Frage nach den letzten Dingen jenseits der irdischen Existenz. Die Menschen schreien nicht nach Lösungen, sondern nach Erlösung, nicht nach Wahrheiten, sondern nach der Wahrheit, nicht nach Kulturchristentum, sondern nach Gott. Diese letzten Dinge, nach denen die Menschen fragen, bezeichnet Barth als die "eschatologischen Dinge" – "eschatologisch" weniger im zeitlichen als vielmehr im qualitativen, transzendentalen Sinne verstanden. Der junge Barth vertritt – etwa in der zweiten Auflage des "Römerbriefs" – nämlich keine zeitliche, "endzeitliche" Eschatologie im biblisch-traditionellen Sinn, sondern eine transzendental-präsentische Eschatologie mit einer transzendentalen Wertsetzung, einer qualitativ anderen Art zu leben hier und jetzt.
Wie kommt es nun, wenn der Mensch von diesem Letzten, Eschatologischen reden soll, zur Befähigung, davon zu reden? Es kommt zur Befähigung, von Gott zu reden, durch die Offenbarung Gottes und den sich darauf stützenden und beziehenden Glauben. Der Inhalt und die Aufgabe des Redens von Gott ist Gottes Menschwerdung als Gottes Wort im Menschenwort. Gott verleiblicht sich also nicht nur in seinem Sohn Jesus Christus (Inkarnation), sondern auch in seinem gesprochenen und geschriebenen Wort (Inverbation), indem er sich in unsere menschlich-geschöpfliche Sprache und Redeweise hineinbegibt. Barth beschreibt drei Wege, drei Versuche, um von Gott zu reden: den dogmatischen, den kritischen und den dialektischen Weg.
Der dogmatische Weg wird gleichgesetzt mit der Orthodoxie. Es ist der Weg des Supranaturalismus, der absolute Wahrheiten empfangen und weitergeben möchte, indem er systematische Gedankengruppen aus Bibel und Dogma herausentwickelt. Barth sagt, dass die Stärke der supranaturalistisch orientierten Orthodoxie in der Objektivität der Antwort besteht, die sie vermitteln möchte. Ihre Schwäche aber liegt in der Nicht-Fragwerdung der Antwort, die quasi als "vom Himmel gefallene Botschaft" vorgegeben wird.
Der kritische Weg findet sich in der Mystik, verstanden als Innerlichkeit und Subjektivismus:
Im eigenen menschlichen Erleben, in der mystischen Erfahrung (man denke hier auch an Barths Lehrer Wilhelm Herrmann!) werden Antworten gesucht. Die Schwäche der Mystik besteht nach Barth in der Nicht-Beantwortung der Frage, indem das innere Erleben des Menschen letztlich auf sich selber konzentriert bleibt, aber die Antwort von außen fehlt.
Barth selber vertritt demgegenüber den dialektischen Weg. Dieser besteht in der gegenseitigen Beziehung von Position und Negation, von These und Antithese, die sich in der Synthese als höherer Ebene aufheben soll. Es entsteht eine ständige Frage- und Antwort-Folge, wobei durchaus Gott die Antwort gibt, aber der Mensch immer wieder als Fragender herantritt. Barth führt aus:
"Auf diesem schmalen Felsengrat kann man nur gehen, nicht stehen, sonst fällt man herunter ... So bleibt nur übrig, ein grauenerregendes Schauspiel für alle nicht Schwindelfreien, Beides, Position und Negation, gegenseitig aufeinander zu beziehen. Ja am Nein zu verdeutlichen und Nein am Ja, ohne länger als einen Moment in einem starren Ja oder Nein zu verharren, also z.B. von der Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung nicht lange anders zu reden als ... unter stärkster Hervorhebung der gänzlichen Verborgenheit, in der sich Gott in der Natur für unsre Augen befindet, vom Tod und von der Vergänglichkeit nicht lange anders als in Erinnerung an die Majestät des ganz andern Lebens, das uns gerade im Tod entgegentritt, von der Gottebenbildlichkeit des Menschen um keinen Preis lange anders als mit der Warnung ein für allemal, dass der Mensch, den wir kennen, der gefallene Mensch ist, von dessen Elend wir mehr wissen als von seiner Glorie, aber wiederum von der Sünde nicht anders als mit dem Hinweis, dass wir sie nicht erkennen würden, wenn sie uns nicht vergeben wäre" (a.a.O., 172).
Barth setzt hier und im folgenden die Erkenntnislehre analog zur Rechtfertigungslehre. Seine Vorstellung der gegenseitigen Beziehung von Position und Negation ist eine formale Parallele zur lutherischen Lehre vom Menschen als ...
"simul iustus et peccator (zugleich Gerechtfertigter und Sünder)".
Nach Barth bleibt der Mensch nicht nur auf der Seins- und Erlösungsebene (ontisch und soteriologisch), sondern eben auch auf der Erkenntnisebene (noetisch) in dieser Spannung stehen zwischen Frage und Antwort, zwischen Position und Negation. Die Schwäche der Dialektik nun, die Barth auch erkennt, besteht im Angewiesensein auf die Frage und in der Behauptung, dass die Wahrheit nicht absolut sei, sondern in der Mitte liege. Die Stärke aber sieht er in der Zeugniskräftigkeit, indem – in menschlicher Selbstbescheidung – von der Eindeutigkeit und Zweideutigkeit der Wahrheit in der Mitte zugleich geredet werden könne. Barth sagt:
"Was soll ... der Dialektiker, wahrscheinlich ein 'Sohn der Berge`, Anderes antworten als: Mein Freund, du musst einsehen, dass du, wenn du nach Gott fragst, und wenn nun wirklich von Gott die Rede sein soll, von mir etwas Anderes nicht erwarten darfst. Ich habe getan, was ich konnte, um dich darauf aufmerksam zu machen, dass mein Bejahen wie mein Verneinen nicht mit dem Anspruch auftreten, die Wahrheit Gottes zu sein, sondern mit dem Anspruch, Zeugnis zu sein von der Wahrheit Gottes, die in der Mitte, jenseits von allem Ja und Nein steht. Und eben darum habe ich nie bejaht, ohne zu verneinen, nie verneint, ohne zu bejahen, weil das Eine wie das Andre nicht das Letzte ist. Wenn mein Zeugnis von diesem Letzten von der Antwort, die du suchst, dir nicht genügt, so tut mir das leid" (a.a.O., 173).
Also nicht eine supranturale Wahrheit, etwa offenbart in einer irrtumslosen Heiligen Schrift, ist für Barth maßgeblich, sondern das Zeugnis von der Wahrheit. Da, wo dieses Zeugnis gegeben wird, ist für ihn "Wort Gottes", also durchaus auch in der Bibel, aber darüber hinaus in der Zeugensituation vor der Schriftwerdung der Bibel und in der heutigen Verkündigung. "Wort Gottes" ist für ihn nicht statisch, sondern dynamisch, nicht als Beschreibung historischer Fakten, sondern als aktuelles Ereignis zu verstehen (s.u.). Insofern ist der Barthsche Begriff "Wort-Gottes-Theologie" für orthodoxe oder pietistische Ohren missverständlich, die von der absoluten Gültigkeit der in der Bibel niedergelegten Offenbarung ausgehen. Nach Barth soll der Theologe als Mensch ausharren in der Spannung zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit seines Auftrags, von Gott zu reden. Denn das Reden von Gott geschieht nur durch Gott – und das ist die Niederlage aller Theologie und aller Theologen. Das betont Barth gegen den Kulturprotestantismus der >Liberalen mit ihrer Verharmlosung Gottes als einer Größe, über die wir als Menschen verfügen könnten. Das betont er auch gegen den >pietistischen Subjektivismus, wie er ihn versteht, der Gott als Gefilde des menschlichen Innenlebens zu horten glaubt.
Die Bedrängnis des Theologen bleibt also bestehen, aber zugleich hat der Theologe die Verheißung, dass das schwache Menschenwort zum Träger des Gotteswortes wird, indem er Gott in seiner Freiheit und Allmacht anerkennt, Hörender bleibt und Zeuge wird. Die Grenze der Dialektik aber, die Barth klar definiert, besteht darin, dass Gott dort zu reden anfängt, wo die Dialektik aufhört. Gott bleibt eben doch der ganz Andere, Unbegreifliche. Er beginnt sich dort zu offenbaren, wo unsere Vorstellungen und Systeme enden. Barth betont:
"Aber diese Möglichkeit, die Möglichkeit, dass Gott selbst spricht, wo von ihm gesprochen wird, liegt nicht auf dem dialektischen Weg als solchem, sondern dort wo auch dieser Weg abbricht ... Und eben so genau ist zu bedenken, dass es mit unsrer Aufgabe so steht, dass von Gott nur Gott selber reden kann. Die Aufgabe der Theologie ist das Wort Gottes. Das bedeutet die sichere Niederlage aller Theologie und aller Theologen ... Wir müssen uns klar sein darüber, dass wir, und wenn wir Luther und Calvin wären, und welchen Weg wir auch einschlagen mögen, so wenig ans Ziel kommen werden wie Moses in das gelobte Land gekommen ist. So gewiss wir irgendeinen Weg gehen müssen ... so gewiss müssen wir bedenken, dass das Ziel unsrer Wege das ist, dass Gott selber rede, und dürfen uns also nicht wundern darüber, wenn uns überall am Ende unsrer Wege und wenn wir unsre Sache noch so gut gemacht hätten, ja dann am meisten, der Mund verschlossen wird" (a.a.O., S. 174.176f.).
Die Größe und Übermacht Gottes betont zu haben, bleibt das Verdienst, aber auch das Problem des jungen Barth. Hier sind eher die philosophischen Kategorien einer platonischen Überwelt und einer rational nicht mehr erreichbaren Glaubensdimension im Gegensatz zum Wissen (à la Kant) durchgeschlagen, als der Wille Gottes, sich eben selbst doch erkennen zu geben, und das primär und unvergleichlich in der Heiligen Schrift mit ihrer eindeutig geoffenbarten Wahrheit (Joh 14,6; 17,17). Sicherlich steht diese Wahrheit über den menschlich erdenkbaren Vorstellungen und Systemen, aber sie ist doch in heilbringender Weise geoffenbart worden und kann nicht durch dialektische Prozesse relativiert werden, ohne ihr Wesen zu verlieren.
Ein scharfer Gegner der Hegelschen Dialektik, ihrer Vorläufer und Epigonen ist der christliche Kulturphilosoph Francis Schaeffer. Er sagt:
Das Übel der Neuzeit ist, dass der Mensch nicht mehr Wahrheit und Lüge, Gut und Böse unterscheiden kann, weil er einen absoluten Gott mit einer absoluten Offenbarung ablehnt. Der Mensch befindet sich daher heute "unterhalb der Linie der Verzweiflung", von wo aus ihm entweder nur der Sprung in den Mystizismus, Irrationalismus und die Anarchie bleibt – oder die Umkehr zum lebendigen Gott mit seinen guten Ordnungen. Zwar befindet sich der Mensch immer in einem Erkenntnisprozess und sein Wissen bleibt Stückwerk (1. Kor 13,9), aber Gott will ihm doch das Heilsnotwendige und das, was für ein geheiligtes (durch die Gemeinschaft mit Gott erneuertes) Leben unabdingbar ist, eindeutig zu erkennen geben. Schaeffer (Gott ist keine Illusion, 1991, 50ff.) wendet sich also scharf gegen die "Preisgabe der Antithese", gegen die Auflösung der absoluten Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Gut und Böse zugunsten einer falschen Synthese im modernen Denken und in der neueren Theologie, auch bei Karl Barth. Schaeffer betont treffend, dass das dialektische Denken (und mit ihm auch die Dialektische Theologie) einen falschen – nämlich zweigeteilten – Wahrheitsbegriff hat; deshalb "kann ein Satz, der richtig klingt, in Wirklichkeit genau das Gegenteil von dem aussagen, was das historische Christentum mit demselben Satz meint". Das biblische Christentum aber "steht und fällt mit der Antithese". "Wenn wir das antithetische Denken aufgeben, haben wir nichts mehr zu sagen."
Diese Konsequenz wurde im Grunde bei Barth deutlich, der Gottes Reden am Ende eben doch in einen Bereich jenseits aller Dialektik verbannen musste: Gott rede dort, wo die Dialektik abbreche.
Demgegenüber halten wir fest: Gott redet klar und verständlich in seinem Wort, der Heiligen Schrift.
Barths Dialektik wirkt sich auch auf sein Bibelverständnis aus: Wort Gottes und Heilige Schrift sind für Barth identisch und doch wieder nicht identisch. Entscheidende Voraussetzung der Barthschen Wort-Gottes-Lehre ist, dass Wort Gottes immer nur in actu, im Handeln, im Ereignis geschieht und nicht in einer objektivierbaren Gestalt vorhanden ist. In KD I/1, § 4 spricht Barth vom Wort Gottes in einer dreifachen Gestalt.
Gemeint ist die unmittelbare Offenbarung Gottes, die er seinen Boten – den Propheten, den Aposteln, den ersten Zeugen – geschenkt hat. Die Offenbarung ist Ereignis der freien, unfassbaren Gnade, die dann in Bibel und Verkündigung begrenzt und gesichert wird. Die Offenbarung erzeugt die Bibel, die dann zum Zeugenwort und Mittler der durch Inverbation schriftgewordenen Offenbarung wird.
Deren konkrete Gestalt ist die Bibel als Erinnerung an die vorausgegangene, schon geschehene Offenbarung. Die Bibel ist nach Barth keineswegs von Fehlern und Irrtümern frei – er bleibt dem Denken der Bibelkritik verhaftet – , sondern sie ist einfach Niederschlag der Botschaft der ersten Zeugen in ihrer Welthaftigkeit. Wie Barth schreibt, ist die Bibel
"nicht selbst und an sich Gottes geschehene Offenbarung",
sondern vielmehr
"das konkrete Mittel, durch das die Kirche an Gottes geschehene Offenbarung erinnert, zur Erwartung künftiger Offenbarung aufgerufen und eben damit zur Verkündigung aufgefordert, ermächtigt und angeleitet wird" (KD I/1, S. 114).
Die Einheit von Bibel und Offenbarung ist ein Ereignis. Die geschehene Offenbarung wird in der Bibel festgehalten, aber "Wort Gottes" wird sie nur als Ereignis, indem Jesus verkündigt wird.
Das Wort Gottes ist verkündigtes Wort – nicht umgekehrt: die Verkündigung wird – etwa durch besondere Rhetorik, Gefühlhaftigkeit, Frömmigkeit usw. – Gottes Wort. Menschliche Rede von Gott ist zuerst und entscheidend Gottes eigene Rede. Gott will zu Wort kommen in der Sprache. Indem Gott zur Sprache kommt, bleibt allerdings das Menschenwort verantwortliches und zugleich irrtumsfähiges Menschenwort, doch tritt dieses kraft des bevollmächtigten "Vikariates Jesu Christi" wahrhaft stellvertretend auf.
Von diesem Ansatz her kann Barth den biblischen Kanon als prinzipiell unabgeschlossen betrachten. Die Kanonsentscheidung ist für ihn Entscheidung des hörenden Menschen und daher nicht grundsätzlich dem Irrtum entzogen. Die Geschlossenheit des Kanons bezeichnet er als "relativ". Er meint:
"Um der wirklichen Autorität des biblischen Kanons willen müssen wir es wieder lernen, seine Feststellung als ein Glaubenszeugnis, seine Anerkennung als Glaubensgehorsam und also seinen tatsächlichen Bestand, auch wenn wir gar keinen Anlass haben sollten, ihn zu beanstanden, als unabgeschlossen zu verstehen" (KD I/2, S. 532).
Positiv zu würdigen ist, dass Barth gegenüber dem Kulturprotestantismus und Liberalismus ein neues, positives Verhältnis zur Heiligen Schrift gewonnen hat. Er und seine Schüler bemühen sich wirklich weithin, auf das Wort Gottes in seinen unterschiedlichen Gestalten zu hören. Sie rechnen mit souveränen Offenbarungsakten Gottes und betonen die Notwendigkeit des Heiligen Geistes, um Gottes Offenbarung zu verstehen. Allerdings müssen wir feststellen, dass Barths Haltung zur Heiligen Schrift an entscheidender Stelle zweideutig ist und dass dadurch dem ganzen Liberalismus mit der historisch-kritischen Methode die Tür offengehalten wurde. Nach Barth gibt es eben das Wort Gottes nur, indem Gott redet. Es existiert kein von Gott losgelöstes Wort Gottes, das man – im Unterschied zu Gott, der selbst Subjekt bleibt – zum Objekt unseres Nachdenkens machen könnte. Die Bibel ist für Barth Menschenwerk, restlos historisch bedingt wie jedes andere Buch, aber sie wird erst in actu, indem Gott redet, zum Wort Gottes. Offenbarung und Heilige Schrift sind zweierlei und doch nicht voneinander zu trennen. Barth wehrt sich mit seiner Schriftlehre im Grunde dagegen, dass man ihn von liberaler Seite auf einen orthodoxen Standpunkt festschreiben wollte. Mit Hilfe seiner Dialektik möchte er beweisen, dass er gar nicht die Verbalinspiration im Sinne der lutherischen Orthodoxie vertritt, sondern das Wort in der Dynamik, in der Bewegung, im Ereignis der Sprachwerdung meint. Von diesem Ansatz her ist es verständlich, dass es gemeinsame Schüler von Rudolf Bultmann und Karl Barth, etwa den Tübinger Systematiker Eberhard Jüngel, gibt, die gerade dieses Ereignis der Sprachwerdung als das Entscheidende beschreiben.
Die bei Barth begegnende und ungewöhnliche Unterscheidung zwischen Verbalinspiration und Verbalinspiriertheit nun hängt zusammen mit der Unterscheidung zwischen aktuellem Ereignischarakter und historischer Faktizität biblischer Aussagen. Mit "Verbalinspiriertheit" etikettiert Barth die klassische Inspirationslehre im orthodoxen Sinn, die an der buchstäblichen Inspiration und Wahrheit der Bibel festhält, und lehnt diese ab. Hier wird seiner Meinung nach aus der freien Gnade Gottes ein Stück Übernatur, eine verobjektivierte Faktizität, eine Verweltlichung der Offenbarung. "Verbalinspiration" im Barthschen Sinne hingegen bezeichnet schlichtweg die Erwählung von Menschen durch Gott, die ihr Zeugnis in der Bibel niedergelegt haben, also im Grunde eher eine Personal- oder Realinspiration. Barth betrachtet das Wort Gottes also immer nur als Aktum, in seinem aktuellen Ereignischarakter, nie als (bloßes) Faktum, etwa historischer Berichte oder Naturereignisse. "Das Wort", das Gott immer wieder aktuell redet, tritt "den Worten" in ihrer historischen und faktischen Fixierung gegenüber.
Als Beispiel nenne ich eine Frage, die in den zwanziger Jahren an Barth gerichtet wurde:
"Hat die Schlange im Paradies geredet?"
Karl Barth antwortete:
"Natürlich hat die Schlange geredet. Sie redet auch jetzt noch" (zit. nach H. Jochums, Die große Enttäuschung, 65).
Jetzt, da wir verführt werden zur Sünde von Hochmut, Trägheit und Lüge, redet die Schlange noch. Von der Sache her ist das richtig. Fragt man jedoch historisch, dann merkt man, wie eine überzeitliche Wahrheit von ihrer historischen Wirklichkeit (hier: dem Sündenfall) gelöst wird. Nicht ohne Grund hat man – vor allem dem jungen Barth – Geschichtsfremdheit und das "Schweben" in einer platonisch anmutenden Zeitlosigkeits-Metaphysik vorgeworfen, was sich auch auf anderen Gebieten (etwa seiner transzendental-präsentischen Eschatologie) zeigt. Hier bestehen durchaus Parallelen zu den theologischen Systemen eines Rudolf Bultmann oder Paul >Tillich, wenn auch Barth in seiner Kritik am biblisch-traditionellen Christentum und Bibelverständnis nicht so weit wie diese gegangen ist.
Gegen die Ablösung der (Geistes-)Wirkung vom biblischen Buchstaben ist Luthers Lehre von der litera spiritualis (geisterfüllter Buchstabe) ins Feld zu führen: Gott bindet sich an sein Wort durch seinen Geist. Das Bibelwort ist Träger des Geistes Gottes, und der Geist hat sich gebunden an das, was im Wort geschrieben ist.
"Luthers 'Wort` ist geisthaltig; und umgekehrt: Luthers 'Geist` wortgebunden" (G. Gloege, Mythologie und Luthertum. Recht und Grenze der Entmythologisierung, 1963, 135).
Nur daraus folgt die Heilsgewissheit: indem ich mich darauf verlassen kann, was in der Heiligen Schrift als dem "geistdurchhauchten Buchstaben" offenbart ist (2. Tim 3,16; 2. Petr 1,21).
"Das Wort sie sollen lassen stahn",
hat Luther deshalb betont. Gott redet unmissverständlich nirgendwo anders als in der Heiligen Schrift. Die Bibel als Gottes Wort bleibt der einzige Maßstab für alle anderen Stimmen – auch für solche, die Gottes Wort zu sein beanspruchen.
"Gott wird nur durch Gott erkannt."
Dieser Kernsatz ist grundlegend für Karl Barths Offenbarungslehre. Und er schließt alle anderen Erkenntniswege zu Gott aus, etwa
Für den jungen Karl Barth ist Gott der ganz Andere, Fremde, Unbegreifliche. Im Vorwort zur zweiten Auflage des "Römerbriefs" (13. Aufl. 1984, S. XIII) hat er dies deutlich formuliert:
"Wenn ich ein 'System` habe, so besteht es darin, dass ich das, was Kierkegaard den 'unendlichen qualitativen Unterschied` von Zeit und Ewigkeit genannt hat ... möglichst beharrlich im Auge behalte. Gott ist im Himmel und du auf Erden!"
Das Distanzpathos, die Unterscheidung zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch ist hier in klassischer Kürze ausgesprochen.
Dabei liegt der Akzent – insbesondere beim jungen Barth, aber auch noch beim älteren – auf der Transzendenz, der Überweltlichkeit Gottes, der sich "senkrecht von oben" offenbart in der Freiheit und dem Plan, den er sich selber gesetzt hat. Barth knüpft an den reformierten Grundsatz an:
"finitum non capax infiniti
(das Endliche kann das Unendliche nicht begreifen)",
der im 16. Jahrhundert in deutlicher Abgrenzung zur lutherischen Abendmahlslehre formuliert worden war und in diesem Zusammenhang auch als "Extra Calvinisticum" bekannt ist. Calvin hatte – ähnlich wie schon Zwingli – die Transzendenz Christi, der zur Rechten Gottes sitzt, betont – im Gegensatz zu Luther, der die Kondeszendenz, die Herablassung Christi – wenn auch geistiger Art – in die Elemente Brot und Wein postuliert hatte.
Barth nun legt Wert darauf, dass der Mensch von sich aus Gott nicht erkennen könnte, wenn nicht Gott sich selbst offenbaren würde. Es gibt also insofern auch eine Kondeszendenz bei Barth, aber die Transzendenz wird viel stärker betont als bei Luther. Jede analogia entis, jede Entsprechung zwischen Gott und Welt aufgrund von Seinsmerkmalen ist bei Barth ausgeschlossen. Das göttliche Sein kann nicht aus dem geschöpflichen Sein (Natur, Gesetz, Gewissen, Geschichte) abgeleitet und erkannt werden. Gott lässt sich nicht durch die analogia entis (Analogie des Seins), sondern allein durch die analogia fidei (Analogie des Glaubens) oder analogia relationis (Analogie der Beziehung, Analogie der von Gott im Bund gestifteten Gemeinschaft) erkennen. Die Initiative liegt also ganz und ausschließlich auf der Seite Gottes. Gotteserkenntnis ist freies Geschenk – wie der Glaube, der sie aufgrund der von Gott gestifteten Beziehung vollzieht.
Gott steht in unendlichem qualitativem Unterschied dem Menschen gegenüber. Barth mit dieser Aussage steht im Gegenüber zur liberalen Theologie, etwa auch in der Romantik bei Schleiermacher. Dieser hatte Gott mit dem Universum identifiziert. Frömmigkeit hatte er als eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins betrachtet. Das "schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl" war für ihn die einzige Weise, wie im allgemeinen das eigene Sein und das unendliche Sein Gottes im Selbstbewusstsein gegenwärtig sein kann. Schleiermacher strebte danach, "mittelst des menschlichen Organismus zu denjenigen Zuständen des Selbstbewusstseins zu gelangen, an welchen sich das Gottesbewusstsein verwirklichen kann" (D. F. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Berlin, 1960, 525). Es versteht sich von selbst, dass ein solcher anthropologisch-psychologischer Ansatz zu dem eminent theozentrischen (zentral auf Gott gerichteten) Denken Barths in diametralem Widerspruch stehen musste.
Für Barth ist der Glaube nie unser Besitz oder unser Erlebnis (letzteres hatte noch der Lehrer Barths, Wilhelm Herrmann, vertreten), sondern unverfügbares Geschenk und – vom Menschen her gesehen – ein Sprung ins Ungewisse des Völlig-auf-Gott-Angewiesenseins. Ihm entspricht eine dialektische Haltung der Offenheit statt einer dogmatischen Festlegung oder kritisch-mystischen Bemächtigung. Er lässt sich nicht objektivieren. Und so wie der Glaube nicht objektivierbar ist, lässt sich auch die Gotteserkenntnis nicht objektivieren, sondern nur immer neu empfangen als Anerkenntnis des Gottes, der im Regimente sitzt. Gott bleibt immer Subjekt, er wird nie zum Objekt unserer Erkenntnisse, Analysen und Beobachtungen – auch nicht in der Theologie. Vielmehr ermächtigt er uns durch seine Offenbarung, ihn zu verstehen. Der Rechtfertigung aus Gnaden entspricht bei Barth die Gotteserkenntnis aus Gnaden.
Bei Barth verläuft die Gotteserkenntnis christomonistisch:
Alle Erkennbarkeit ist auf Christus und sein Werk konzentriert. Eine Offenbarung Gottes vor, nach oder außerhalb des Christusgeschehens wird bestritten oder zumindest stark reduziert. Bibelstellen, die auf eine Offenbarung Gottes in der Schöpfung, in der Geschichte und im Gewissen hindeuten (z.B. Röm 1f.; Apg 17) werden als "Nebenlinie" der Christusoffenbarung bezeichnet und dieser eingeordnet bzw. nachträglich auf das Christusereignis bezogen (vgl. v.a. KD II/1, 136f.).
Problematisch ist, dass die Welt ihre Bedeutung als Schöpfung einbüsst, wenn alles auf das Christusereignis konzentriert wird. Der spätere Barth hat diese Gefahr zum Teil erkannt und die Dimension der Welt wieder neu betont. Er postulierte nicht mehr – wie im "Römerbrief" – die Unverfügbarkeit Gottes an sich, sondern die Unverfügbarkeit seiner Liebe, die Freiheit seiner Gnadenwahl. Gott bleibt der souveräne Gott in seiner Freiheit zu lieben und zu erwählen (also in actu). Gott ist gerade darin Gott, dass er Mensch wird, aber die Transzendenz ist nun die Freiheit zur Liebe (Erwählungslehre bei Karl Barth). Barths Theologie bleibt also auch in der Spätphase "Theologie von oben". Gott kommt zum Menschen. Es gibt keinen Anknüpfungspunkt im Menschen für das Handeln Gottes und keine "natürliche Theologie". Aber Gottes Gottsein erweist sich nicht mehr durch seine unerreichbare Überweltlichkeit als Wesensdimension, sondern im souveränen Handeln als Eigenschaft. "Natürliche Theologie" betrachtet Barth als Versuch der religiösen Bemächtigung Gottes, der zum Scheitern verurteilt ist, und als Gnadenfeindschaft.
Barth steht mit dieser Position bewusst gegen lutherische Theologen wie Paul Althaus und Werner Elert, die an der Möglichkeit einer Ur- und Schöpfungsoffenbarung festhielten. Leider ließen sich während der Zeit des Nationalsozialismus manche lutherische Theologen dazu hinreißen, eine Schöpfungsoffenbarung auch in Blut und Boden, Volk und Rasse zu postulieren – eine schlimme Verzeichnung der Position Martin Luthers, die Barth vehement und zu Recht bekämpfte. Luther selber hatte zwar an einer Offenbarung Gottes in Schöpfung, Geschichte, Gesetz und Evangelium festgehalten, sich aber stets gegen jede Vergötzung des Geschaffenen gewehrt. Auch wenn für Luther Gott sich nicht nur in Christus offenbarte, so blieb Christus doch für ihn Maßstab und Korrektiv. Auch Werner Elert und Paul Althaus unterschieden zwischen einer Uroffenbarung vor Christus und der heilbringenden und endgültigen Offenbarung in Christus – ein meines Erachtens dem biblischen Gesamtzeugnis entsprechender Ansatz.
Massive Kritik an Karl Barths Offenbarungsverständnis übte auf reformierter Seite Emil Brunner, ursprünglich Weggenosse Barths und Anhänger der Dialektischen Theologie. Der Widerspruch entzündete sich an der Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Welt, zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Theologie und Säkularismus. Zentral war die Diskussion über Gotteserkenntnis und Offenbarung und über das Verhältnis von "Natur und Gnade". In einer so titulierten, 1934 veröffentlichten kleinen Schrift, der Barth bald darauf ein wütendes "Nein!" (so der Titel der Antwortschrift) entgegenschleuderte, hat Brunner in klassischer Weise die Kritik an Barths Offenbarungsverständnis formuliert. Im folgenden fassen wir die wesentlichen Argumente daraus zusammen.
Brunner zeigt zunächst kurz die Konsequenzen von Barths Offenbarungsverständnis auf. Als erstes stellt er fest, dass bei Barth die Gottebenbildlichkeit des Menschen völlig ausgetilgt wird. Ferner wird eine allgemeine Offenbarung bei Barth abgelehnt. Nur eine Offenbarung wird anerkannt: die Christusoffenbarung (Christomonismus).
Für Barth fällt die Schöpfungs- und Erhaltungsgnade weg, die seit der Grundlegung der Welt da ist (z.B. dass Gott seine Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen lässt). Allein die Christusgnade bleibt übrig. Für Barth existieren keine Erhaltungsordnungen (lex naturae). Es gibt keinen Anknüpfungspunkt für das göttliche Erlösungshandeln im Menschen. Die Alleinwirksamkeit der Christusgnade wird betont. Die Schöpfung wird bei Barth nicht als Vollendung des Alten gesehen, sondern als reine Neusetzung durch Vernichtung des Alten hindurch.
"Gratia non tollit naturam, sed perficit
(die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vollendet sie)"
– diesen thomistischen Satz lehnt Barth völlig ab und bezeichnet ihn als "Erzketzerei". Was Barth als Irrtümer betrachtet, etikettiert er als "unbiblisch", "thomistisch-katholisch", "unreformatorisch", "aufklärerisch" und "neuprotestantisch".
Brunners Gegenposition geht davon aus, dass eine Differenzierung notwendig ist zwischen einer formalen und materialen Gottebenbildlichkeit (imago Dei formalis et materialis). Die formale Gottebenbildlichkeit ist von der Sünde unangetastet, die materiale Gottebenbildlichkeit ist durch die Sünde völlig verloren. Die formale, unangetastete Gottebenbildlichkeit bezieht sich auf das Humanum des Menschen, auf sein Menschsein: der Mensch besitzt eine Wortfähigkeit (Wort und Antwort sind möglich) und daher Verantwortlichkeit. Das ist die Voraussetzung dafür, dass er überhaupt sündigen kann. Wenn er – etwa von der "Schlange" oder von anderen Menschen – nicht ansprechbar wäre, könnte er gar nicht verführt werden und sündigen. Die materiale Gottebenbildlichkeit hingegen, die völlig verloren ist, bezieht sich auf den Menschen im Zustand der Sünde, auf den Menschen im Widerspruch zu Gott, als widergöttliche und widerpersönliche Person.
Im Blick auf die – von Barth abgelehnte – Schöpfungsoffenbarung führt Brunner aus, dass die Sünde die Erkennbarkeit Gottes im Menschen gestört, aber nicht zerstört hat. Brunner beruft sich vor allem auf – von Barth stiefmütterlich behandelte – Stellen wie Röm 1f., Apg 14 und 17. Das Erkennen ist verfinstert, aber nicht ausgelöscht. Die Schöpfungsoffenbarung bleibt für die Nichtchristen getrübt und vieldeutig (deshalb machen sie sich Götzen) und sie bringt kein Heil. Und weil mit der Schöpfungsoffenbarung das Gewissen zusammenhängt, kann der Mensch überhaupt erst sündigen. Die Christusoffenbarung hingegen ist eindeutig und heilbringend. Brunner schreibt:
"Durch Christus erkennen wir, dass sich Gott uns schon vorher offenbart hat, dass wir aber diese Offenbarung nicht recht gelten ließen" (Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, 1934, 14).
In diesem Zusammenhang kann man von einer "negativen natürlichen Theologie (theologia naturalis negativa)" (aber eben doch "natürlichen Theologie") sprechen.
Im Blick auf die Erhaltungsgnade schreibt Brunner, dass es eine allgemeine Gnade vor der Christusgnade gibt, z.B. im Staat, um dem Bösen zu wehren, in der Natur, wo die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint usw. Das gesamte natürliche, geschöpfliche Leben hängt von dieser Erhaltungsgnade ab. Sie wird freilich erst im Licht der Christusoffenbarung recht erkannt und führt dann – dann! – zum Danken. In Christus erkennen wir, was Gott schon immer für uns getan hat.
Laut Brunner ist ein Anknüpfungspunkt für die Gnade und Offenbarung Gottes im Menschen vorhanden, und zwar in Gestalt der auch dem Sünder nicht abhanden gekommenen formalen Gottebenbildlichkeit. Und dieser Anknüpfungspunkt für Gottes Wort an den Menschen ist eben die reine Ansprechbarkeit des Menschen, sein Ja-oder-Nein-Sagen-Können, seine Ver-Antwort-lichkeit. Gottes Wort schafft nicht die Wortmächtigkeit des Menschen – diese hat er nie verloren, denn sie ist die Voraussetzung für das Hörenkönnen -, aber Gottes Wort schafft die Fähigkeit des Menschen, Gottes Wort zu glauben. Das sola gratia (allein aus Gnaden) wird also nicht gefährdet. Brunner schreibt:
"Wer nicht glaubt, der ist selbst schuld. Wer glaubt, der weiss: es ist reine Gnade" (a.a.O., S. 19).
Und:
"In der Sünde gibt es kein Wissen von Gott, denn das wahre Wissen von Gott ist die Aufhebung der Sünde" (a.a.O.).
Es existiert also eine Voraussetzung für den Empfang des Glaubens, die geschöpflich angelegt ist, aber der Glaube selber ist freies Geschenk Gottes – ein auch in dieser differenzierten Form fundamentaler Unterschied zu Barth, der das völlige Übergewicht der Gnade und Erwählung betont.
Schließlich richtet Brunner gegen Barth den Vorwurf des Aktualismus: Barth erkenne nur die Offenbarung, aber nicht die Offenbartheit Gottes an, nur das aktuelle Handeln (Aktum), aber nicht das Gehandelthaben Gottes mit seinen Ergebnissen in der Geschichte (Faktum). In der Bibel finden wir gerade das Zeugnis von der "Offenbartheit" im Sinne Brunners, der historischen Faktizität der bezeugten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Offenbarungshandeln Gottes.
Brunner gesteht Barth zu, dass dieser nicht einfach die Fähigkeit auch des unerlösten Menschen leugnet, "Vernünftiges zu tun und zu denken, und dass die Humanität und Kultur bei aller Fragwürdigkeit von der Offenbarung aus nicht einfach negativ zu bewerten sei" (a.a.O., S. 10). Der Streit geht aber letztendlich um den "imago-Rest", den "Rest der Gottebenbildlichkeit" im natürlichen, unerlösten Menschen. Brunner nun erklärt diesen imago-Rest nicht als quantitativen Rest (z.B. in dem Sinne, dass 90% des menschlichen Wesens durch die Sünde verdorben und 10% unversehrt seien), sondern er erklärt ihn qualitativ: Material gesehen ist der Mensch ganz und gar verdorben und verfinstert, aber formal gesehen ist seine Menschlichkeit, sein Humanum, seine Wortfähigkeit und Verantwortlichkeit erhalten geblieben. Der formale Sinn des Begriffes "Gottebenbildlichkeit" ist "das Humanum, d.h. dasjenige, was den Menschen, ob er nun Sünder sei oder nicht, vor der gesamten übrigen Kreatur auszeichnet" (a.a.O., S. 10).
Die Frage stellt sich ihrerseits an Brunner, ob sich so einfach trennen lässt zwischen formaler und materialer Gottebenbildlichkeit. Barth hält das nicht für möglich, sondern betont das völlige Angewiesensein auf die erwählende und neuschaffende Gnade. Sie allein erzeugt auch den Anknüpfungspunkt, den es von Natur aus im Wesen des Sünders nicht gibt:
"... der Heilige Geist, der vom Vater und vom Sohn ausgeht und also als von Gott geoffenbart und geglaubt ist, bedarf keines Anknüpfungspunktes als dessen, den er selber setzt" ("Nein!", S. 56).
Bei Brunner drohe die "römische" Gefahr der Seinsanalogie (analogia entis) – für Barth eine der schwersten Sünden der Gegenwart.
Für Barth ist "Gottebenbildlichkeit" nur noch auf der Ebene der Beziehungsanalogie (analogia relationis), namentlich in der Beziehung zwischen Mann und Frau in der Ehe, vorhanden (vgl. KD III/1, S. 205ff.), aber nicht in irgendeinem Humanum, einem in der Wesenhaftigkeit und Seinsart des Menschen gleichsam verankerten geschöpflichen Besitz. Hörenkönnen und Wortfähigkeit werden nach Barth also von Gott ermöglicht und sind nicht als eine erhalten gebliebene Gottebenbildlichkeit zu verstehen. Die Frage nach der Gottebenbildlichkeit ist sehr alt und hat in der Philosophie- und Theologiegeschichte die unterschiedlichsten Antworten erfahren. Sie lässt sich auch an dieser Stelle nicht letztgültig entscheiden. Vielleicht hilft die Differenzierung, die Helmut Thielicke vornimmt, weiter:
"Bei der Frage, ob die Gottebenbildlichkeit verloren werden könne, muss man zwischen 'verlieren` und 'verwirken` unterscheiden. Was ich verloren habe, kann ich möglicherweise zurückgewinnen. Das Verwirken aber bezieht sich auf die Preisgabe von etwas, das ich selbst nicht erwirkt habe (zum Beispiel, dass ich Gottes Ebenbild bin) und das ich mir damit auch nicht 'vom Halse schaffen` kann. Ich bleibe mit der (sc. durch die Sünde) verwirkten, aber nicht zu beseitigenden Gottebenbildlichkeit behaftet und muss mit ihr im Bannkreis des numen tremendum Dei (der erschreckend-verzehrenden Heiligkeit Gottes) stehenbleiben ... Ich bleibe jemand, der auf Grund, Ziel und Sinn seines Daseins angesprochen werden kann – und damit auch auf das, was er verwirkt hat" (Mensch sein – Mensch werden. Entwurf einer christlichen Anthropologie, 1976, S. 429f.).
Gottebenbildlichkeit in dem Sinne einer Entsprechung des Menschen zum Wesen Gottes, die in der Schöpfung angelegt war, ist also durch die Sünde verwirkt, wenn auch nicht verloren, denn Sünde ist ein eklatanter Widerspruch zum Wesen Gottes. Nichts Unheiliges, Unreines kann von Natur aus in Gemeinschaft mit Gott stehen oder Anteil an Gottes Wesen haben. Die verwirkte Gottebenbildlichkeit wird erst wieder neu verwirklicht, wenn der Fluch der Sünde überwunden wird – und das erfolgt durch die Annahme des Versöhnungsopfers Jesu Christi, des neuen Menschen und wahren Ebenbildes Gottes (vgl. 2. Kor 4,4; Kol 1,15). In Jesus Christus wird die vom Menschen verwirkte Gottebenbildlichkeit aufs Neue verwirklicht und dem Menschen rettend angeboten
Was die Frage einer Ur- oder Schöpfungsoffenbarung betrifft, so halte ich diese für möglich, was die schon mehrmals erwähnten Stellen wie Röm 1f., Apg 17 etc. meines Erachtens klar bezeugen. Barth hat zwar recht: Gott wird nur durch Gott erkannt. Aber es war Gottes Wille, sich auch den Heiden nicht unbezeugt zu lassen und ihnen sein Gesetz in ihr Gewissen zu schreiben.
Es gibt"Ewigkeit in ihren Herzen" (Don Richardson)
– eine Erfahrung, die Missionare oftmals bei entlegenen Eingeborenenstämmen gemacht haben. Allerdings würde ich vorsichtiger sein als Emil Brunner und nicht von einer "Gotteserkenntnis" im Heidentum reden (vgl. Natur und Gnade, S. 13), sondern nur von einer – durch die Sünde (mit ihrer Folge z.B. des Fressens und Gefressen-Werdens) verfinsterten – Gottesahnung aus den Werken der Schöpfung, aus der Geschichte und dem Gewissen (vgl. Röm 1,18ff.). Erst durch Christus wird diese Ahnung des Schöpfers für denjenigen, der sich ganz diesem Herrn anvertraut, zur Erkenntnis, zur Gewissheit und zum Heil.
In dem bekannten § 17 aus KD I/2 geht es um "Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion". Religion ist Unglaube. Sie ist die Angelegenheit des – gerade in seiner Religiosität – gottlosen Menschen, denn sie sucht Rechtfertigung und Heiligung als eigenes Werk und missachtet dabei Gottes Tat der Selbstoffenbarung und Versöhnung in seinem Wort. Der Mensch will sich selber rechtfertigen und heiligen. Er nimmt Gottes souveränes Wirken nicht ernst und für sich an. Religion ist Unglaube als niedere Religion, die sich Götter und Götzenbilder macht. Sie ist Unglaube als Versuch der Gesetzeserfüllung mit dem Ziel der Selbsterlösung aufgrund eigener Werke (so in den Werkreligionen, aber auch in einem missverstandenen, legalistischen Christentum). Und sie ist Unglaube als höhere Religion, etwa in Gestalt der Mystik als werkloser Selbstrechtfertigung und "innerer Erfahrung des Göttlichen", oder auch des Atheismus als Verneinung des Göttlichen bei gleichzeitiger Bejahung weltlicher Mächte und Autoritäten. Die wahre Religion hingegen ist die christliche Religion – verstanden allerdings nicht als "Religion" im Sinne der Feuerbachschen Kritik, sondern als Glaube, der die von Gott in seiner Freiheit allein gewirkte Rechtfertigung und Heiligung dankbar ergreift. Nicht wir ergreifen und erwählen Christus, sondern Christus erwählt und ergreift uns. Vehement betont Barth immer wieder die Alleinwirksamkeit der Erwählungsgnade, die er nicht auf das Gebiet der Erlösung beschränkt, sondern auch auf die Erkenntnisebene ausdehnt.
Barths Position richtete für Jahrzehnte einen Wall auf gegen die Religionsvermischung (>Synkretismus). Obwohl seine Position "kein menschliches Absprechen über menschliche Werte, keine Bestreitung des Wahren, Guten und Schönen, das wir bei näherem Zusehen in fast allen Religionen entdecken können" (KD 1/2, S. 327) sein sollte, so war doch allen nichtchristlichen Religionen und auch einem falsch verstandenen Christentum die Heils- und Erkenntnisfunktion abgesprochen worden. Erst in den sechziger Jahren – fast zeitgleich mit Barths Rückzug von der Lehrtätigkeit – begann dieser Wall immer mehr zu bröckeln. Barths Christomonismus wurde angesichts des zunehmend forcierten interreligiösen Dialogs als "unzeitgemäß" angesehen. Dabei hat Barth, was die grundlegende Frage der >Absolutheit des Christentums angeht, die biblische Botschaft eindeutig auf seiner Seite. Durchgehend wird nämlich in der Heiligen Schrift die Absolutheit des einen Gottes, Jahwe, und seines Sohnes Jesus Christus betont, demgegenüber alle anderen Götter dämonisch inspirierte und nichtige Götzen sind (vgl. z.B. 2.Mose 20,2ff.; Joh 14,6; 1. Kor 10,20f.). Willem Adolf Visser`t Hooft, der Freund Barths und langjährige Präsident des Ökumenischen Rates der Kirchen, schrieb im Jahre 1965 (entgegen der späteren Tendenz des ÖRK):
"Die ewige Bestimmung des Menschen hängt ab von seiner Entscheidung im Blick auf sein Verhältnis zu ... Jesus von Nazareth ... Diese Person ist in jeder Hinsicht einmalig. Es gibt nur einen Lehrer, den Christus (Matth. 23,10), einen Herrn (Eph. 4,5; 1. Kor. 8,6), einen Hirten (Joh. 10,16), einen Mittler (1. Tim. 2,5). Er hat einen Namen, der über alle Namen ist (Phil. 2,9). Er ist der eingeborene Sohn (Joh. 3,16). Jede der christologischen Bezeichnungen deutet darauf hin, dass er einen Auftrag hat, den kein anderer jemals hatte oder haben wird. 'Und ist in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden` (Apg. 4,12)."
Und Visser`t Hooft betont:
"Es ist höchste Zeit, dass die Christen wieder erkennen, dass der Kern ihres Glaubens darin besteht, dass Jesus Christus nicht gekommen ist, um seinen Beitrag zum religiösen Warenhaus der Menschheit zu leisten, sondern dass Gott in ihm die Welt mit sich selbst versöhnt hat. Es ist an der Zeit, dass die Kirche die unbezahlte Rechnung, die der Synkretismus darstellt, begleicht. Es ist an der Zeit zu zeigen, dass im Evangelium ein Universalismus sui generis (umfassende Bedeutung eigener Art; L. G.) enthalten ist" (Kein anderer Name. Synkretismus oder christlicher Universalismus?, 1965, 100f.).
S. auch Barth, Karl; Erwählungslehre bei Karl Barth.
Lit.: K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, 1924; ders., Kirchliche Dogmatik, 1932-1967. – Kritisch: L. Gassmann, Karl Barth, 1995; ders., Kampf um die Wahrheit, 1999.
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de