Mystik kommt von griech. "myein", "die Augen schlie�en und verstummen" ist Einkehr, inneres Erleben des Menschen mit dem Ziel unmittelbaren Einswerdens mit einem anderen, oft transzendenten Sein: mit einem objektiven Seinsgrund, mit der Geschichte, mit Gott, mit der Welt, mit dem Selbst usw. � je nach Ausgangspunkt. Mystik gibt es in vielf�ltigen Formen quer durch die Geschichte und Religionen. Es soll versucht werden, einige wichtige Systeme zu skizzieren und das jeweils Typische herauszustellen.
In den primitiven Religionen wird in einem individuellen ekstatischen Erlebnis Vereinigung mit einer Gottheit gesucht. Das ist die Wurzel aller Mystik Ziel der chinesischen >taoistischen Mystik ist es, sein Selbst im namenlosen, ewigen, unpers�nlichen Urgrund des Seins (Tao) zu verlieren.
"Heimkehren zum Wurzelgrund hei�t: Stille finden" (Laotse, Tao-te-King).
Die >hinduistischen Upanischaden lehren als Weg, vom leidvollen Kreislauf der Seelenwanderung freizuwerden, dass man in mystischer Versenkung erkennen solle, dass der Innerste Kern des menschlichen Selbst (Atman) identisch ist mit der Weltseele (Brahman). Erkenntnis ist die erl�sende Macht. Die individuelle Existenz geht in der gro�en Weltseele unter: Brahma-Nirwana. (In den Bhakti-Religionen tritt an Stelle der unpers�nlichen Weltseele eine Erl�sergottheit.) Indische Einfl�sse sind in der abendl�ndischen Philosophie erkennbar. So postuliert die >platonische Seelenwanderungslehre die Gleichartigkeit von unsterblicher Menschenseele und Weltseele. Alle Erkenntnisse des einzelnen Menschen sind Wiedererinnerungen aus fr�heren Verk�rperungen der Seele. Au�erdem liegt im menschlichen Eros das Streben nach Gott�hnlichkeit (aber nicht Vergottung!). Erst Plotin und andere Neuplatoniker machten daraus eine Identit�ts-Mystik (Seele und Gott sind identisch). Diese fr�hen Grundauspr�gungen der Mystik haben alle weiteren mystischen Systeme beeinflusst. Dabei ging die Mystik mancherlei Verbindungen ein, z.B. auch mit dem Christentum (Gnosis usw.).
Als bedeutendster christlicher Mystiker sei stellvertretend Meister Eckhart betrachtet. Eckhart (1260-1327) sagt, dass Gott und die Seele des Menschen einander ebenbildlich sind. So wie �ber dem geoffenbarten dreieinigen Gott die absolute, ganz jenseitige, eine Gottheit steht, so steht �ber den drei Seelenkr�ften (Ged�chtnis, Vernunft und Willen) das g�ttliche, edle, unverderbte Seelenf�nklein des Menschen. Erl�sung geschieht durch das Einswerden der Seele mit Gott.
" ... das Erkennen veredelt die Seele zu Gott hin, die Liebe eint sie mit Gott, und das wirkliche Erf�hlen vollendet sie in Gott."
Christus ist Vorbild f�r vollkommene Nachfolge, die zur Einswerdung mit Gott f�hrt, aber er ist kein Erl�sungsmittler.
"In der Weise frei soll der Mensch sein, dass er keinerlei Schuld oder Unvollkommenheit in sich finde ... Die auf sich selbst verzichtet haben und Gott nachfolgen, von allem gel�st, wie k�nnte da Gott umhin: er muss seine Gnade in die Seele gie�en, die in ihrer Liebe sich selber so ganz vernichtet hat" (Schriften, 1934, 97).
In der Neuzeit tritt die Mystik in einer zunehmend s�kularisierten Form auf. Gott wird (nun auch in seinem Wesen und seinen Eigenschaften) zunehmend vom Menschen, von der Natur, der Welt, der Geschichte, der Seele oder �hnlichem her bestimmt. � Der autonome Vernunftwille (Kant) des von Natur aus guten Menschen (Rousseau) bildet die Grundlage der sittlichen Mystik Fichtes (Gleichsetzung von moralischer Ordnung und Gott). � Der Pantheismus Spinozas wirkt weiter in der Identit�tsphilosophie Schellings (Gleichsetzung von Natur und Geist). � Die Hegelsche Philosophie (>Hegelianismus) ist im Grunde eine Geschichts-Mystik: Die Geschichte als solche ist Manifestation und Offenbarung der als Gott bezeichneten absoluten Idee, des absoluten Geistes. Die Geschichte selber also (nicht Christus) ist der Mittler. Eine ungebrochene Kontinuit�t zwischen Gott und Mensch wird angenommen.
In der vom deutschen Idealismus beeinflussten mystischen Gef�hlsreligion F. D. E. Schleiermachers erscheint S�nde als notwendige Entwicklungsstufe, Erl�sung als Evolutionsprozess und Christus als nachahmenswertes Vorbild kraft seines vollkommenen "Gottesbewusstseins". "Die Richtung auf das Gottesbewusstsein schlie�t als innerer Trieb das Bewusstsein des Verm�gens in sich, mittelst des menschlichen Organismus zu denjenigen Zust�nden des Selbstbewusstseins zu gelangen, an welchen sich das Gottesbewusstsein verwirklichen kann" (Der christliche Glaube, 1960, 525).
Innerhalb der seit 1900 datierbaren psychologischen Wissenschaft ist es besonders C. G. >Jung, bei dem man eine ausgesprochene Seelen-Mystik finden kann:
"Wie das Auge der Sonne, so entspricht die Seele Gott ... auf alle F�lle muss die Seele eine Beziehungsm�glichkeit, eine Entsprechung zum Wesen Gottes in sich haben, sonst k�nnte ein Zusammenhang nie zustande kommen." "Man hat mir �Vergottung der Seele` vorgeworfen. Nicht ich � Gott selber hat sie vergottet!"
(Bewusstes und Unbewusstes, 1982, 61ff).
Beurteilung: Der bei allen Mystikern am meisten zu kritisierende Punkt ist das Heils- und Erl�sungsverst�ndnis. Mystik ist das Streben nach Heil oder Erl�sung unter Umgehung von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi im biblischen Sinn. Durch Suche nach Direktkontakt mit Gott, dem Seinsgrund, Tao, der Geschichte, dem absoluten Geist, der Macht des Unterbewusstseins usw. will man zu Erl�sung, Vollkommenheit, Erkenntnis, Heil, Heilung usw. gelangen. Im Grunde ist Mystik, auch wo von einer transzendenten Macht die Rede ist, immer der Weg von unten nach oben, die Selbsterhebung des Menschen zu einer h�heren Daseinsstufe. Auch wenn diese Daseinsstufe "Gott" genannt wird, wird deutlich, dass damit nicht der pers�nliche, sich offenbarende, ansprechbare Gott der Bibel gemeint ist.
Partner und Ziel der unio mystica ist vielmehr
Christlich sprechende Mystiker identifizieren Gott mit "Liebe", was nach 1. Joh 4,16 durchaus richtig ist. Aber sie rauben Gott seine Lebendigkeit, indem sie ihn Liebe und nur Liebe sein lassen, indem sie Gott und Liebe zu einem Prinzip machen und Gottes Gerichtsernst nicht ernst nehmen, auf den durchgehend in der Bibel hingewiesen wird (vgl. besonders Mt 25,31ff.; Joh 5,28; Offb 20,11ff.). Jesus spielt bei nichtchristlichen Mystikern �berhaupt keine Rolle, bei christlichen fungiert er wenigstens als Vorbild (das in der Mystik verk�rzte Motiv der imitatio Christi). Ein Erl�ser ist ja auch �berfl�ssig, wo man davon ausgeht, dass es keinen richtenden Gott gibt, dass der Mensch doch nicht so schlecht ist, dass ein "Seelenf�nklein" in ihm unverderbt ist, ja dass er selber g�ttlich ist. Mystiker �bersehen oder verharmlosen den Graben, den unsere S�nde zwischen Gott und uns aufgerissen hat. Kein Mensch kann diesen Graben aus eigener Kraft �berspringen und sich selber S�nde vergeben. Nur indem Gott uns entgegenkommt, uns vergebend die Hand reicht, k�nnen wir Vergebung erlangen und wahren Seelenfrieden finden. Dies hat Gott ein f�r allemal und f�r alle Zeiten g�ltig getan, indem er seinen Sohn Jesus Christus am Kreuz sterben lie� � indem er ihn sterben lie�, damit wir leben. Denn durch unsere Schuld waren wir Todgeweihte und unf�hig, Gott entgegenzugehen. Nun aber sind alle, die an Jesus als Retter glauben und ihm nachfolgen, zum Leben Befreite und bef�higt, aufzuerstehen.
"Denn der Sold der S�nde ist Tod; Gottes Gabe aber ist ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn" (R�m 6,23).
Zu allen Zeiten war die Botschaft vom Kreuz ein �rgernis, weil im Kreuzestod Jesu die totale Verlorenheit jedes Menschen zum Ausdruck kommt. (1. Kor 1,18ff). Aber nicht in der Selbsterhebung des Menschen zu Gott, sondern allein im Glauben an das am Kreuz geschehene Erl�sungswunder liegt die Rettung, das Heil, der Frieden mit Gott. Das rettende Wunder sind Jesu Wunden. Kein Weg f�hrt am Kreuz vorbei. Der Mystiker und jeder, der das nicht sehen will, t�uscht sich selber und erf�hrt nicht die Gotteskraft: die Gabe der Vergebung und des ewigen Lebens, das uns Gott in seinem Sohn Jesus Christus geschenkt hat. "Er ist unser Friede" (Eph 2,14). Mystik hat u.U. ihre Berechtigung als Frage nach dem Weg zu Gott, zum Heil. Der Glaube an Jesus ist die Antwort darauf.
Was ist nun aber mit den "mystisch klingenden Bibelstellen"? Sie sind alle auf dem Hintergrund des Glaubens an die Erl�sung, die durch den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu geschehen ist, zu sehen. So bedeutet das Sein "in Christus", das "Teilhaftigsein Gottes oder Christi" usw. (R�m 6,3.23; 8,10.29; Gal 2,20; 4,19; 2. Petr 1,4 u.�.) nicht das Erstreben einer h�heren Gotteserkenntnis durch eine mystische Versenkung oder Vereinigung. In Wirklichkeit ist hiermit die Gemeinschaft gemeint, in der der lebendige Gekreuzigte mit allen, die an ihn glauben, steht. Christus nimmt die Glaubenden bei sich auf, umfasst sie und bestimmt ihren Lebensgang. Gemeinschaft bedeutet nicht Identit�t (das �bersieht besonders der Pantheismus). Gott bleibt Gott, Christus bleibt Christus, und Mensch bleibt Mensch. Ein Christ ist nicht Christus. Ein Christ ist ein Mensch, der den Geist Gottes hat, ohne allerdings autonom �ber ihn verf�gen zu k�nnen. (Gerade das jedoch will der Mystiker: Identit�t, immer innigere Verschmelzung, Einswerdung mit Gott, Verf�gbarkeit Gottes). Mystischer Pantheismus steht im Widerspruch zur Freiheit Gottes gegen�ber allem Gesch�pflichen und tut auch dem Gesch�pf selbst Gewalt an. Entgegen ihrer h�ufigen pantheistischen Mi�deutung meint auch die Bibelstelle 1. Korinther 15,28 ("damit dass Gott sei alles in allem/n") "nicht, dass das All einmal nicht mehr sein, dass dann Gott wieder allein sein werde, sondern dass er dann, in der Endoffenbarung seines Weges, mit seinem Gesch�pf in allem � ohne dass es darum aufh�ren w�rde, von ihm verschieden wirklich zu sein � , dem Gesch�pf selbst sichtbar zu seinem Ziel gekommen sein wird" (K. Barth, KD III/3, 1950, 98).
Um Missverst�ndnissen vorzubeugen, sollen Mystik und mystische Glaubenshaltung unterschieden werden (obwohl die Unterscheidung schon wegen der Begrifflichkeit nicht unproblematisch ist). Mystik ist der Versuch, an Kreuz und Auferstehung Jesu vorbei in Direktkontakt mit Gott zu treten. Die mystische Glaubenshaltung hingegen setzt den rettenden Glauben an Kreuz und Auferstehung Jesu voraus und bem�ht sich auf dieser Grundlage um eine vertiefte Gebetshaltung, um eine Herzensfr�mmigkeit, um ein inniges H�ren auf Wort und Willen Gottes. "Mystische Glaubenshaltung" meint also einfach "Innerlichkeit des Glaubens". Die Gleichsetzung von "Innerlichkeit" und Mystik hat sich eingeb�rgert. Sie hat aber nichts mit dem hier kritisierten � urspr�nglichen � Begriff von Mystik zu tun.
S. auch: Hinduismus; Pantheismus; >Katholizismus; Gnosis; >Erleuchtung; Meditation; Taoismus; Buddhismus; >Zen; Yoga; Anthroposophie..
Lit.: R. Holzhauer, Verf�hrungsprinzipien, 2001; D. Hunt, Die okkulte Invasion, 2002.
Meister Eckhart: Mystik
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de