P. kommt von dem lateinischen Wort "pius". Dieses bedeutet "fromm und rechtschaffen". Damit verwandt ist das lateinische Hauptwort "pietas", "Fr�mmigkeit". Der Leipziger Rhethorikprofessor Joachim Feller formulierte im Jahre 1689 folgende Definition: "Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert und nach demselben auch ein heiliges Leben f�hrt." Der Begriff "Pietist" wurde ab 1674 vereinzelt f�r Anh�nger des Frankfurter Seniors Philipp Jakob >Spener gebraucht. Der Begriff findet sich erstmals in einem Brief Speners aus dem Jahre 1680. Die Sache, um die es geht, ist jedoch �lter.
Der P. entstand als Erneuerungsbewegung im 17. Jahrhundert angesichts einer aus der Reformation hervorgegangenen theologischen Richtung, die man als "Orthodoxie", d.h. "Rechtgl�ubigkeit", bezeichnet hatte. Letzterer warf man vor, nur noch trockene Dogmatik zu lehren, welche nicht mit Leben gef�llt war. Der Grundsatz des P. lautete dagegen: Der Glaube muss vom Kopf ins Herz dringen, er muss gelebt werden. Vor allem in W�rttemberg, aber etwa auch im Siegerland, im s�chsischen Erzgebirge und am Niederrhein bei Wuppertal besa� der P. eine gro�e Tradition und ist auch heute noch zahlreich vorhanden. Der P. hat die sogenannten "Stunden" und Gemeinschaften hervorgebracht mit ihren unterschiedlichsten Auspr�gungen. Da gibt es z.B. die Altpietistischen Gemeinschaften, den W�rttembergischen Br�derbund, die Liebenzeller Gemeinschaften, die Pregizer Gemeinschaften, die Hahnschen Gemeinschaften, die S�ddeutsche Vereinigung, die Chrischona-Gemeinschaften, den AB-Verein, die Evangelische Gesellschaft f�r Deutschland, die Siegerl�nder Gemeinschaften und viele andere. Alle diese gehen letztendlich auf den P. zur�ck. Im 19. Jahrhundert entstand unter dem Eindruck der "Gro�en Erweckung" (Wesley, Finney, Moody u.a.) der Neu-P. � in gewissem Gegensatz zum Alt-P., welcher sich auf die urspr�nglichen pietistischen V�ter st�tzt. Der P. lief eine Zeitlang parallel zu einer Str�mung, die man die "Aufkl�rung " nennt. Aufkl�rung und P. waren � insbesondere im Blick auf die neuzeitliche Wende weg vom Autorit�ts- und Kirchenglauben und hin zum Individualismus und Subjektivismus, zur inneren Religion des Herzens � wie ungleiche Zwillinge, die sich im Grunde nicht mochten und in ihren Nachfolgebewegungen bis heute bek�mpfen.
Im Unterschied zur Aufkl�rung finden wir im P. eine lebendige, verinnerlichte Religiosit�t, eine Herzensfr�mmigkeit. Man spricht hier auch von der Pektoraltheologie. Das lateinische Wort "pectum", das Herz, steht f�r eine Theologie des Herzens, also der Innerlichkeit. Weiter ist die Selbstbeobachtung f�r den P. charakteristisch. So wurden von August Hermann Francke und anderen Pietisten Tageb�cher gef�hrt, Biographien �ber die eigenen Erfahrungen mit Gott. Die "Praxis pietatis", die "Fr�mmigkeitspraxis" trat an die Stelle einer blo�en Kopftheologie (zumindest wurde diese den Gegnern unterstellt). Besonders betont wurden >Wiedergeburt und >Heiligung, st�rker als in der Theologie der Reformatoren. Eine wichtige Bibelstelle in diesem Zusammenhang ist Joh 3,3, wo Jesus spricht: "Ihr m�sst von Neuem (oder auch: von oben her) geboren werden (griech: anothen genesthai)." Die Scheidung von der Welt war ein weiterer Lehrschwerpunkt. Diese nahm oft asketische und weltverneinende Formen an. Eine Konventikel-Tendenz f�hrte zum Teil zum Separatismus (Absonderung von der Kirche). �berwiegend jedoch wollte man "Kirchlein in der Kirche" ("ecclesiola in ecclesia") sein, wie Spener formulierte.
Die bedeutendsten Vertreter des P. in der Kirchengeschichte waren: Philipp Jakob >Spener, August Hermann Francke, Gottfried >Arnold, Nikolaus Ludwig Graf von >Zinzendorf, Johann Albrecht >Bengel, Friedrich Christoph >Oetinger und Johann Michael >Hahn. Dar�ber hinaus waren weitere Pers�nlichkeiten f�r den P. pr�gend, z.B. Johann Jakob Rambach (1693-1735), Philipp Friedrich Hiller (1695-1769), Gerhard Tersteegen (1697-1769), Johann Friedrich Oberlin (1740-1826), Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), Aloys Henh�fer (1789-1862), Ludwig Hofacker (1798-1828), Christian Gottlob Pregizer (1751-1824) und Johann Christoph Blumhardt (1805-1880).
Der P., der urspr�nglich als Reform- und Erneuerungsbewegung auf den Plan trat, rief von Anfang an bis heute zahlreiche Gegenschriften, Stellungnahmen, Verordnungen und Verbote hervor. Widerstand erfuhr er von verschiedenen Seiten: von der Orthodoxie ebenso wie von der Aufkl�rung, von Kirchenleitungen ebenso wie von Regierungen. Zu den fr�hen Gegnern des P. z�hlen z.B. der Danziger Professor Daniel Schel (g)wi (n)g (1643-1715) mit seiner Schrift "Die sektiererische Pietisterei" (1696/97) und der Dresdner Superintendent Valentin Ernst L�scher (1673-1749) mit seinem "Vollst�ndigen Timotheus Verinus" (1718/21). Als Beispiel, welche Kritikpunkte man dem fr�hen P. entgegenhielt, gebe ich (in eigener, verst�ndlicherer Formulierung) einige Ausz�ge aus der "Verordnung gegen den P." des Konsistoriums von Braunschweig-L�neburg aus dem Jahre 170341 wieder (mit eigenen Anmerkungen in Klammern). Der aufmerksame Leser wird selber feststellen, dass etliche dieser Vorw�rfe zwar auf Vertreter eines "radikalen" oder mystischen P. zutreffen, aber z.B. nicht auf die n�chterne und gem��igte Richtung in der Linie eines Spener oder Francke. Folgende Punkte wurden den Pietisten vorgehalten:
1. Sie halten obrigkeitliche Kirchenverordnungen f�r unbillig unter dem Vorwand, man m�sse Gott mehr gehorchen als den Menschen. (Auch heute ist diese Frage sehr aktuell: Wie weit k�nnen wir dem Staat und der Kirche gehorchen, wenn es um Fragen geht wie >Abtreibung, >Homo-Ehe, Bibelkritik, Feminismus und �hnliches?)
2. Sie verl�stern das evangelische Predigtamt als Babel, indem sie das allgemeine Priestertum �bertreiben. (Es gab ja viele "Stunden", die zum Teil unabh�ngig von der kirchlichen Aufsicht gehalten wurden).
3. Das Kirchengehen sei unn�tig, da der Tempel Gottes sich im Herzen befinde. (Dies vertraten jedoch nicht alle Pietisten, Spener am allerwenigsten, aber es gab solche Str�mungen bei den Separatisten und "Inspirierten" mit der Betonung des "inneren Lichts".)
4. Sie enthalten sich des Abendmahls. (Dies wurde den fr�hen Pietisten auch �berwiegend zu Unrecht vorgeworfen. Etliche hielten sich treu zu ihrer Gemeinde und Kirche und nahmen an den Sakramenten teil.)
5. Sie verwerfen die Kindertaufe (s. zu 4.)
6. Sie verleumden die Beichte (s. zu 4.)
7. Sie streben durch >Heiligung zur eigenen Vollkommenheit im Gegensatz zu R�m 3, 1. Joh.1 und anderen Stellen. R�m 7 beziehen sie auf den nicht wiedergeborenen Menschen. (Das Heiligungsstreben der Pietisten wurde gerne als Perfektionismus ausgelegt. Spener, Francke u.a. bewegten sich hier jedoch durchaus in den Bahnen der lutherischen Rechtfertigungslehre).
8. Sie h�ngen der Mystik an, dem inneren Licht. (Dies traf nur auf Pietisten in der mystisch-theosophischen Linie von Weigel, Tauler, >B�hme u.a. zu).
9. Sie stellen Nicht-Pietisten als Unwiedergeborene dar. (Der Vorwurf der �berheblichkeit und des Pharis�ismus � Verhaltensweisen, vor denen sich freilich auch Pietisten h�ten sollten. Nicht nur bei Pietisten gibt es Wiedergeborene und Erl�ste!)
10. Sie ziehen in ihren Konventikeln ungebildete Seelen an und betreiben Freigeisterei. (Der Vorwurf der Absonderung und "Winkelpredigt".)
11. Sie vertreten den Chiliasmus, d.h. die Lehre vom erst zuk�nftig kommenden Tausendj�hrigen Reich. (In der Tradition der reformatorischen Bekenntnisschriften wurde dies abgelehnt, da man im 16. Jahrhundert schlimme Erfahrungen mit chiliastischen Extremisten gemacht hatte, etwa im "T�uferreich von M�nster". Dennoch findet sich diese Lehre m.E. klar in der Heiligen Schrift, etwa in Offb 20, was auch Spener und nach ihm andere pietistische V�ter neu entdeckt und betont haben.)
12. Sie bezeichnen Lachen und Tanzen als Tods�nde. (Den fr�hen Pietisten wurde noch gesetzliche Enge vorgeworfen. Heute ist dies allerdings innerhalb des P. allerdings zum Teil ins Gegenteil umgeschlagen).
13. Sie machen Werke zum Kennzeichen des Christen und verkleinern dadurch den Glauben. (Dieser Vorwurf konnte z.B. Pietisten in der Linie Speners, der sehr dem Luthertum zugeneigt blieb, nicht treffen.)
14. Sie vertreten den Donatismus bez�glich der Sakramente, d.h. dass Sakramente nur durch die Vermittlung von Wiedergeborenen g�ltig seien (s. zu 13.)
15. Einige seien gegen die Arbeit, da Wiedergeborene nur f�r Gott t�tig sein sollen. (Dieser Vorwurf traf nur einige >Schw�rmer unter den Pietisten. Die meisten gingen und gehen treu ihrer Arbeit nach.)
16. Einige vertreten die >Allvers�hnung.
Allgemein wurde den Pietisten vorgehalten, sie setzten die Bekenntnisschriften der Reformatoren herab und verurteilten undifferenziert alle >Philosophie. Zusammenfassend sei vermerkt: Diese Vorw�rfe treffen sicherlich zum Teil zu, allerdings wurde in ungerechtfertigter Weise immer wieder verallgemeinert. Sp�ter hat man dann vers�hnlichere T�ne angestimmt, etwa in W�rttemberg in Form des Pietisten-Reskripts von 1743.
Geradezu klassisch geworden ist Emanuel Hirschs Aufsatz "Die Grundlegung der pietistischen Theologie durch Philipp Jakob Spener" aus dem Jahre 1951. Wie der Titel verr�t, macht Hirsch die Anf�nge des P. an einem theologischen System fest, wie es Spener in den "Pia Desideria" (1675) dargestellt hat. Der Spenersche P. ist f�r ihn eine Bewegung zur Erneuerung von Theologie und Kirche aus dem Rechtfertigungsglauben heraus, der in die individuell-pers�nliche Erfahrung �berf�hrt wird. Spener kn�pft laut Hirsch also an die lutherische Rechtfertigungslehre an. Die lutherische Orthodoxie betrachtete den Glauben als Vollendung der Bu�e des sich bekehrenden S�nders. Dieser Glaube wird in der Wiedergeburt durch den Heiligen Geist empfangen und f�hrt zur Vereinigung mit Gott, zur Heiligung und Erneuerung. >Heiligung ist die t�glich erneuerte Rechtfertigung, die dem Menschen ohne sein Verdienst imputativ (durch g�ttliche Zurechnung) zuteil wird. Der Mensch bleibt auf die dauernde Vergebung Gottes angewiesen. Spener f�hrt diese Lehre weiter und betont den Praxisbezug. Die praxis pietatis (Fr�mmigkeitspraxis) wird f�r ihn gegen�ber einer teilweise in Dogmen erstarrten Orthodoxie wichtig. Auch geht Spener �ber die Orthodoxie hinaus direkt auf Luther zur�ck, wenn er � im Unterschied etwa zu Hollaz � die Reue nicht auf die Wirkung des Gesetzes, sondern auf das Evangelium zur�ckf�hrt. Nach Hirsch will der Spenersche P. nicht den Rechtfertigungsglauben verdr�ngen, sondern ihn so tief in den Lebensgrund des Einzelnen einsenken, dass er den ganzen Menschen von innen her bestimmt und regiert. Mit dieser Betonung eines kirchlichen, von Luthers Rechtfertigungslehre her gepr�gten P. ist Hirsch von einer Position abger�ckt, die er noch im Jahre 1922 vertreten hatte. In dem Beitrag "Zum Verst�ndnis Schwenckfelds" hatte er Spener in die Tradition des mystischen (und meist separatistischen) >Spiritualismus eingeordnet und in die Linie Kaspar Schwenckfelds und Christian Hoburgs gestellt.
Eben diese Zuordnung Speners zum mystischen Spiritualismus nimmt Martin Schmidt in zwei Aufs�tzen �ber "Speners Wiedergeburtslehre" und "Speners 'Pia Desideria`" aus dem Jahre 1951 vor. Nicht auf die Rechtfertigung, sondern "auf die Wiedergeburt des Einzelnen l�uft alles hinaus", meint Schmidt unter Hinweis z.B. auf die Pia Desideria und die Spenerschrift von 1701: "Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt". Die Wiedergeburt � so Schmidt � ist von der Rechtfertigung scharf abzugrenzen, zugleich aber geht die Rechtfertigung in die Wiedergeburt auf. Die Wiedergeburt ist die Erschaffung einer neuen Art im Menschen durch Gottes Geist (vgl. Joh 3,1 ff.). Ihre Kennzeichen sind Passivit�t (Gott wirkt), Innerlichkeit, Anfechtung, Hoffnungslosigkeit der menschlichen Situation an sich sowie Gotteskindschaft. W�hrend in der lutherischen Orthodoxie die Wiedergeburtslehre nur ein Teil des ordo salutis (der Heilsordnung) ist, umf�ngt sie bei Spener den gesamten Heilsprozess � nach Schmidt ein Hinweis auf spiritualistische Einfl�sse beim Verfasser der Pia Desideria. Bereits Kaspar Schwenckfeld (1489-1529) hatte die Innerlichkeit und die Einwohnung Christi in den Gl�ubigen betont. In seiner Nachfolge hatte sich der mystisch-spiritualistische Separatist Christian Hoburg (1607-1675) in seiner 1644 ver�ffentlichten Schrift "Spiegel der Mi�br�uche beim heutigen Predigtamt" gegen den imputativen Charakter der melanchthonischen Rechtfertigungslehre ausgesprochen. Der Christus pro nobis (Christus f�r uns) gen�ge nicht; auf den Christus in nobis (Christus in uns) komme es an. Rechtfertigung sei Fiktion, Wiedergeburt dagegen eine Tatsache. Rechtfertigung �bert�nche das Fleisch, Wiedergeburt verwandle es. Auch der eher kirchlich gepr�gte Theophil Gro�gebauer (1627-1661) forderte in seiner 1661 erschienenen "W�chterstimme aus dem verw�steten Zion" Herzens�nderung, Wiedergeburt und wahre Gottseligkeit. Er erwartete davon die Reform der Kirche, w�hrend Hoburg zum Auszug aus "Babel" aufrief. Spener, der bereits 1662 das Buch Gro�gebauers kennen gelernt hat, ber�hrt sich zwar mit Hoburg in der Forderung nach Wiedergeburt des Einzelnen, h�lt jedoch mit Gro�gebauer an der sichtbaren Kirche und deren Reformf�higkeit fest.
Johannes Wallmann hat eine Vielzahl von Schriften und Aufs�tzen zur P.forschung herausgegeben, darunter die umfangreiche Monographie "Philipp Jakob Spener und die Anf�nge des P." (1986). Im folgenden versuche ich, einige Grundz�ge seiner Forschungen zusammenzufassen.
Wallmann unterscheidet zwischen einem engen und einem weiten P.begriff. Der enge P.begriff, wie ihn etwa Martin Schmidt und die "Historische Kommission zur Erforschung des P." vertreten, konzentriert sich auf den lutherisch gepr�gten deutschen P. seit Spener. Schl�sseljahr ist die Ver�ffentlichung der Pia Desideria 1675. � Der weite P.begriff schlie�t Vorl�ufer und parallele Bewegungen zu Spener und dem deutschen lutherischen P., etwa in England und den Niederlanden, ein.
Wallmanns Definition orientiert sich am weiten P.begriff. F�r ihn ist der P. eine im 17. Jahrhundert entstehende und im 18. Jahrhundert zu voller Bl�te gelangende religi�se Erneuerungsbewegung im kontinentaleurop�ischen Protestantismus, die sich gleicherma�en in der lutherischen und in der reformierten Kirche findet. Sie ist gekennzeichnet durch Individualisierung und Verinnerlichung des Glaubens, neue Formen gemeinschaftlichen Lebens sowie Reformen in Theologie und Kirche. Verwandte Elemente finden sich nach Wallmann im katholischen Quietismus (Michael Molinos: 1640-1696) und Jansenismus (Blaise Pascal: 1623-1662), im j�dischen Chassidismus, im englischen Puritanismus (William Perkins: 1558-1602) sowie im niederl�ndisch-reformierten Protestantismus (William Teelinck: 1579-1629; Jean de Taffin: 1530-1602; Jodocus von Lodenstein: 1620-1677; Theodor Undereyck: 1635-1693).
An eine These Kurt Dietrich Schmidts (1928) ankn�pfend, schreibt Wallmann dem niederl�ndisch-reformierten Pfarrer und (seit 1669) Separatisten Jean de Labadie (1610-1674) gro�en Einfluss auf Spener zu, insbesondere was die Einrichtung der collegia pietatis (Fr�mmigkeitskonventikel) und die Eschatologie angeht. Durch Vermittlung von Anna Maria van Schurman (1607-1678) und Johann Jakob Sch�tz (1640-1690) sei Spener der labadistische Gedanke nahegebracht worden, die (in Frankfurt/Main bereits seit 1670 bestehenden) collegia pietatis ab 1674 in Versammlungen nach dem urchristlichen Vorbild von 1. Kor 14 umzuwandeln, in denen nicht mehr Erbauungsschriftsteller (z.B. Lewis Bayly, Joachim L�tkemann und Nicolaus Hunnius) gelesen, sondern unmittelbar die Bibel betrachtet wird. Auch Speners "chiliastische" Zukunftshoffnung mit der Erwartung der baldigen Judenbekehrung und des Falls von Babel-Rom habe seine Wurzeln bei Labadie.
Was den lutherischen P. betrifft, schlie�t sich Wallmann einer These Wilhelm Koepps (1912) und F. E. Stoefflers (1966) an und baut diese weiter aus. Sie lautet: Nicht Spener, sondern Johann Arndt (1555-1621) ist der Vater des lutherischen P.. Arndt pr�gte in seinen Erbauungsschriften - insbesondere in den "Vier B�chern vom wahren Christentum" (1605-1610) - den pietistischen Fr�mmigkeitstyp. Spener, der sich � etwa in den Pia Desideria � immer wieder auf Arndt bezieht, brachte die Arndtschen Ansichten in ein theologisches System und begr�ndete die pietistische Bewegung, indem er die collegia pietatis als sozial nachweisbaren Faktor zum Leben erweckte. Arndt war von der Mystik z.B. eines Johann Tauler, eines Valentin Weigel und einer Angela de Foligno beeinflu�t, was verschiedene Zitate sowie die Gliederung seiner B�cher gem�� den Stufen Reinigung (purgatio), Erleuchtung (illuminatio) und Vereinigung (unio mystica) zeigen. Und doch kommt die lutherische Orthodoxie zu ihrem Recht, indem Arndt nicht eine Heils-, sondern eine Heiligungsmystik (gottseliges Leben aufgrund Glaube und Rechtfertigung) vertritt. Nach Arndts Tod teilten sich seine Sch�ler in einen rechten Fl�gel mit einem innerkirchlichen Reformanliegen (Johann Valentin Andreae: 1586-1654; Paul Egard: gest. 1655) und einen linken Fl�gel mit einem kirchenkritischen Spiritualismus (Melchior Breler: 1589-1627; Christian Hoburg: 1607-1675; Friedrich Breckling: 1629-1711).
Wallmann wendet sich gegen den historischen Ansatz Kurt Alands, der den Anfang des P. mit der Wirkung von Speners Pia Desideria begr�nden will. Die Wirkung der Pia Desideria � so Wallmann � ist aber zun�chst gar nicht so gro� gewesen, wie immer behauptet wird, was sich z.B. daran zeigt, dass sie bis 1706 nur f�nf Auflagen erlebt hat. Sie kann mit der Verbreitung von Arndts "Wahrem Christentum" nicht konkurrieren. Ihre Wirkung gleicht nicht einem "Fl�chenbrand", sondern einer "Anzahl stiller Feuer", die an mehreren Orten entz�ndet wurden und entweder verl�schten oder � v.a. in Leipzig und sp�ter Halle (August Hermann Francke) oder W�rttemberg - weiterglimmten.
Ebenso wendet sich Wallmann gegen den theologiegeschichtlichen Ansatz Martin Schmidts, der bei Spener ein neues theologisches Konzept der Wiedergeburt zu entdecken glaubt. Demgegen�ber stellt Wallmann die These auf: Das eigentliche Hauptanliegen und Thema f�r Spener ist nicht die Wiedergeburt, sondern die Erneuerung, also der neue Lebensstand des Wiedergeborenen. Die Wiedergeburt bezeichnet den Eingang und Grund des Christenstandes, die Erneuerung bezeichnet dessen Fortsetzung, Wachstum und Vervollkommnung. Die Erneuerung ist die Folge der Wiedergeburt. Bekehrung und Wiedergeburt sind laut Wallmann nicht Kern, sondern Voraussetzung des Spenerschen Programms. Speners Wiedergeburtslehre h�lt fest an der melanchthonisch gepr�gten Rechtfertigungslehre des orthodoxen Luthertums und erweitert diese zum Effektiven hin. Die Betonung liegt auf der praxis pietatis (praktizierte Fr�mmigkeit). Die Wiedergeburt wird als augenblickliches Ereignis abgegrenzt von der Erneuerung als prozesshaftem Geschehen. So wird der Gegensatz zum mystischen Spiritualismus eines Kaspar Schwenckfeld und Christian Hoburg deutlich, welche die Wiedergeburt als fortdauernden "Heilsprozess" betrachteten.
Als wesentliche Neuerungen Speners gegen�ber der lutherischen Orthodoxie nennt Wallmann zum einen den Ersatz der Naherwartung des J�ngsten Tages durch die "chiliastische" Hoffnung besserer Zeiten, die hier auf Erden nach dem Fall des p�pstlichen Rom und der Judenbekehrung eintreten sollen. Zum anderen legt er den Schwerpunkt seiner Hoffnungen nicht auf die Reform der ganzen Volkskirche mit Hilfe des landesherrlichen Kirchenregimentes, sondern in erster Linie auf die Sammlung der Frommen ("Pietisten") in kleinen Kreisen: in der ecclesiola in ecclesia (Kirchlein in der Kirche), die sich verwirklicht in Gestalt der collegia pietatis. Katechetisch gepr�gte private Erbauungsversammlungen � quasi Vorstufen der Spenerschen collegia pietatis � gab es bereits vor Speners Frankfurter Zeit, z.B. bei Theodor Undereyck, dem Begr�nder des P. in der reformierten Kirche, etwa seit 1661 in M�lheim/Ruhr. Ebenfalls im reformierten Bereich propagierte 1668 (also ein Jahr vor seiner Separation) Jean de Labadie in seiner Schrift "L` Exercice proph�tique" die Einf�hrung apostolischer Kirchenversammlungen nach dem Vorbild von 1. Kor 14 sowie eine chiliastische Zukunftshoffnung mit der Erwartung der baldigen Judenbekehrung und des Falls von Babel. Im lutherischen Bereich fanden sich in der ersten H�lfte des 17. Jahrhunderts vereinzelt Privatversammlungen neben dem Gottesdienst (G�rlitz, Butzbach, L�beck, Hamburg), die jedoch separatistische Tendenz zeigten. Erst Spener verhalf dem Gedanken der collegia pietatis im kirchlichen Bereich, jedoch unter st�ndiger Abwehr des Separatismus-Verdachts zum Durchbruch. Er tat dies, indem er sie - laut Wallmann auf Anraten von Freunden (v.a. den von Labadie beeinflu�ten Johann Jakob Sch�tz) � seit August 1670 regelm��ig praktizierte und sich der Gedanke von Frankfurt in andere Orte ausbreitete.
Im Jahre 1994 erschien aufgrund der Initiative von Johannes Wallmann eine bereits 1930 fertiggestellte und zeitweise verschollene Dissertation von Werner Bellardi, in welcher anhand von Quellen der Nachweis gef�hrt wird, dass sich sogar schon im 16. Jahrhundert bei Zwingli, Calvin, Lasci, Franz Lambert und Martin Bucer Vorstufen der collegia pietatis finden, so dass dieser � letztlich auf Luthers drittes Kirchenmodell zur�ckgehende - Gedanke bei Spener keineswegs so revolution�r neu ist (W. Bellardi, Die Vorstufen der Collegia pietatis bei Philipp Jacob Spener, 1994).
Kurt Aland hat Johannes Wallmann in mehreren Punkten heftig widersprochen. F�r ihn bedeutet Spener "den Anfang des lutherischen P. in Deutschland" (Philipp Jacob Spener und die Anf�nge des Pietismus, 1979, 157). Im Gegensatz zu Wallmanns Behauptung, die collegia pietatis seien durch die Initiative "gottseliger Freunde" angeregt worden, verweist Aland auf eine Predigt Speners vom 3. Oktober 1669, die seines Erachtens den Ansto� dazu gab. Zur Idee der collegia pietatis nach 1. Kor 14 war Spener nicht erst durch Labadie und Sch�tz, sondern durch eigenes Nachdenken in Anlehnung an einen Vorschlag Luthers angeregt worden. In seiner Vorrede zur "Deutschen Messe" und an anderen Stellen hatte sich der Reformator f�r eine ecclesiola in ecclesia sowie f�r die Wiedereinf�hrung von Ordnungen nach dem Vorbild von 1. Kor 14 ausgesprochen, die er allerdings an den Gottesdienst gebunden wissen wollte (1979, 171 ff.). Bez�glich der "Hoffnung besserer Zeiten" � so meint Aland � kann man nicht wie Wallmann von "Chiliasmus" reden, sondern h�chstens von einem Aufschub der Naherwartung durch die Judenbekehrung und den Sturz Roms. Zu den eschatologischen Lehren ist Spener nicht erst durch Labadie, sondern bereits durch seine Dissertation �ber Offb 9,13-21 angeregt worden, die er im Jahre 1664 abschloss. Der Einfluss von Labadie und Sch�tz auf Spener, so Alands Meinung, wird von Wallmann stark �bersch�tzt (1979, 179 ff.).
Beyreuther f�hrt die Wurzeln des P. bis auf Jakob B�hme (1575-1624) zur�ck: "B�hme geh�rt zu den vorbereitenden M�chten, die die Dynamik des P. erheblich mit ausl�sten" (Geschichte des Pietismus, 1978, 33). B�hmes Pansophie, die zum Teil frei spekulierend war und nicht mehr der Lehre Luthers entsprach, pr�gte die pietistischen V�ter in unterschiedlichem Ma�: am meisten wohl Oetinger, am wenigsten Spener. Diesen hielt seine N�he zu Luther vor theosophischen Spekulationen zur�ck (1978, 27 f. 33). Einen ungleich gr��eren Einfluss auf den P. und insbesondere auf Spener schreibt Beyreuther � hier mit Wallmann �bereinstimmend � Johann Arndt zu, der seine mystischen Ansichten einer lutherischen Revision unterzog (1978, 33 ff.). Beyreuther sucht die Thesen E. Hirschs und M. Schmidts miteinander zu verbinden, indem er behauptet, dass Spener "mit selbstverst�ndlicher Entschiedenheit ... die lutherische Rechtfertigungslehre" vertreten hat, in die sich dann allerdings "virulentes mystisch-schw�rmerisches Gedankengut" einnistete. Von einer "�berfremdung" des lutherischen Ansatzes Speners durch spiritualistische Elemente kann man aber nicht reden, h�lt er gegen�ber Schmidt fest (1978, 87). Ebenso gegen Schmidt und mit Wallmann konstatiert Beyreuther, dass die 77 "Wiedergeburts-Predigten" Speners aus der Zeit von 1670-1699 nicht speziell vom Vorgang der Wiedergeburt, sondern vom "neuen Leben" im Sinn der paulinischen Aussagen handeln. "W�re das Thema von der Wiedergeburt das Zentralthema in Speners Theologie und Fr�mmigkeit, so ist nicht recht zu begreifen, da� er ihm in seinem Gesamtschaffen in der �ffentlichkeit so wenig Raum einger�umt h�tte" (1978, 359). �berhaupt liegen Rechtfertigung, Wiedergeburt und Erneuerung unzertrennlich ineinander. Im Unterschied zum Spiritualismus hat Spener die Wiedergeburt nicht im naturalistischen Sinn verstanden (1978, 109. 120). Ebenfalls im Unterschied zum Spiritualismus betont Spener die bleibende Verbindung zur Kirche und die Verankerung in der Reformation Martin Luthers. Die collegia pietatis kamen aufgrund einer Predigt Speners am 3. Oktober 1669 zustande (1978, 92 f.). Bei der in den Pia Desideria zugrundegelegten Eschatologie handelt es sich um einen "Chiliasmus subtilis", eine "Akzeptanz des `Tausendj�hrigen Reiches`, wenn auch nicht in der gr�bsten und sinnlichsten Form" (1978, 96).
Die oben skizzierte Diskussion zeigt, dass man mit monokausalen, einseitigen Erkl�rungsversuchen nach dem Schema "Entweder � Oder" nicht weiterkommt: entweder mystisch-spiritualistische Wiedergeburtslehre oder lutherisch-orthodoxe Rechtfertigungslehre; Initiative zur Gr�ndung der collegia pietatis entweder von Spener oder von seinen Freunden; entweder Einfluss von Labadie oder eigene Entdeckung Speners im Blick auf Ekklesiologie und Eschatologie... Geschichtliche Entwicklungen sind Geschehensvorg�nge, die viel zu komplex sind, um sich immer solchen glatten Alternativen zu f�gen. Und Gottes Geist weht, wo er will (vgl. Joh 3,8). Ausgehend von diesen Erkenntnissen und vom historischen Tatbestand, m�chte ich an die oben charakterisierten Positionen folgende Anfragen stellen:
- Kann man Rechtfertigung, Wiedergeburt und Erneuerung wirklich so gegeneinander ausspielen, wie es manchmal in der Diskussion geschehen ist? Stehen diese Vorg�nge nicht � wie z.B. E. Beyreuther richtig bemerkt � in einem untrennbaren Zusammenhang miteinander und werden von Spener allesamt betont? Ist nicht in jedem Moment Gottes Geist am Wirken, so dass gerade f�r den Wiedergeborenen und in der Erneuerung lebenden Menschen das Jesuswort gilt: "Ohne mich k�nnt ihr nichts tun"? (Joh 15,5). Die Wiedergeburt � so betont Spener � geschieht "aus Gnaden" und ist untrennbar mit der Rechtfertigung verbunden. In ihr erlangt der Mensch "ein geistliches Leben und neue Kr�fte". Die Wiedergeburt "ist der Anfang des geistlichen Lebens", die Erneuerung seine "Fortsetzung". "Jene ist vollkommen, denn wir werden ganz zu Gottes Kindern geboren, diese aber ist unvollkommen; jene geschieht auf einmal, an dieser hat man t�glich noch zu arbeiten; durch jene erlangen wir den Glauben, durch diese erweisen wir ihn; die erste geschieht allein durch Gott und seine Gnade, die andere zugleich durch die dem Menschen geschenkten neuen Kr�fte", die er aber ebenfalls von Gott empfangen hat (Spener Katechismus-Erkl�rung, 1984, 340 f.). Die Wiedergeburt wird f�r Spener - im Unterschied zur Ansicht mystischer Spiritualisten � kein aus eigener Kraft zu erlangender Besitz oder Wesensbestandteil des Menschen, sondern sie kann verloren gehen, "wenn der heilige Geist und der Glaube versto�en werden". Der Mensch bleibt also stets auf die Rechtfertigung angewiesen, die im Glauben empfangen wird (ebd., 142. 342). Falls man spiritualistische Einfl�sse auf Spener im Blick auf die Wiedergeburtslehre nicht ausschlie�en m�chte, so sind diese im Endergebnis seiner Ver�ffentlichungen h�chstens noch subtil vorhanden. Prinzipiell gilt im Blick auf Spener: "Es wird alles lutheranisiert!" (Beyreuther).
- L�sst sich heute noch mit Sicherheit ermitteln, ob zuerst Spener oder einer seiner Freunde die Idee der collegia pietatis hatte? Lassen die Quellen nicht beide M�glichkeiten zu? K�nnte es nicht sein, dass die Idee gleichzeitig von verschiedenen Seiten gekommen und die Ausformung der collegia im wechselseitigen Dialog zwischen Spener und seinen Freunden entstanden ist? L�sst sich die Alternative zwischen dem Einfluss Luthers und Labadies halten? Oder wurden nicht Impulse von allen beiden sowie von weiteren Autoren und Vorl�ufern in selbst�ndiger Verarbeitung aufgenommen, so dass etwas ganz Neues entstanden ist? Zeigt nicht gerade die entschiedene Ablehnung des Separatismus durch Spener die Grenze der Einflussnahme von Labadie und Sch�tz auf ihn?
- Muss Speners eschatologische Lehre von der Judenbekehrung und dem Fall des p�pstlichen Roms wirklich auf Labadie zur�ckgef�hrt werden? Bezieht sich nicht Spener selber unmittelbar auf die offensichtlichen biblischen Stellen R�m 11,25f., Hos 3,4f. und Offb 18f. (Spener, Pia Desideria, 1964, 43 f.; 1983, 46 f.)? Kann es nicht sein, dass er � wie auch Aland sagt � bereits im Rahmen seiner Dissertation �ber die Apokalypse des Johannes zu seinen eschatologischen Anschauungen gef�hrt wurde, wobei die Entdeckung der �hnlichen Lehren bei Labadie eine Best�tigung gebildet haben mag?
Ich m�chte mit einer Bemerkung zu Johannes Wallmanns Ver�ffentlichungen schlie�en, da diese innerhalb der P.-Diskussion mit am meisten Einfluss erlangt haben. Wallmann ist sicherlich recht zu geben, wenn er zeigt, dass Spener nicht "von Null auf" angefangen hat, sondern in vielf�ltigen Traditionslinien steht. Insbesondere hat Wallmann den Blick ganz neu auf die Tatsache gelenkt, dass Speners Pia Desideria ja urspr�nglich als Vorwort zu einem Werk Johann Arndts erschienen war und immer wieder auf diesen zur�ckverweist. Diese Bindung an die Tradition kann nicht genug betont werden. Jeder steht in solchen Linien der �berlieferung. Die tradierten Elemente verbinden sich freilich in dem Moment zu etwas revolution�r Neuem, wenn der angestaute �berdruss �ber das Alte � hier: �ber eine vertrocknete Orthodoxie - seine Entladung sucht und eine Integrationsfigur findet. Spener war die Pers�nlichkeit, die diesem �berdruss ein Ventil verschaffte und Elemente aus ganz unterschiedlichen Systemen zum Programm einer Bewegung verband, die bis heute besteht. Sie wurden von Spener selber seiner lutherischen Pr�gung gem�� angepasst und umgeformt.
In Wallmanns Ver�ffentlichungen sp�rt man allerdings deutlich die Tendenz, den Einfluss Speners auf die Entstehung des P. herabzusetzen. So kann er sogar von Spener und dem von Labadie beeinflussten Sch�tz als den "beiden Urheber (n)" des lutherischen P. reden (1986, 353). Sicherlich stand Spener mit den Pers�nlichkeiten seiner Zeit in lebendigem Dialog und hat Impulse vom einen oder anderen aufgenommen. Aber sollte man ihm nicht mehr Originalit�t im Denken � durchaus unter direktem R�ckbezug auf die Bibel und die lutherischen Schriften � zugestehen, was das Ergebnis und den Gesamtentwurf seines Programms betrifft? Ich denke, dass hier Kurt Alands Kritik ein notwendiges Gegengewicht zu Johannes Wallmanns Position bildet � �hnlich wie das schon fr�her im Blick auf andere Themen bei Emanuel Hirsch und Martin Schmidt gewesen war.
Der P. befindet sich heute in einer Krise. Es ist eine Krise des Glaubens und des Lebens, die sich bei vielen seiner Vertreter in einer Anpassung an den Zeitgeist und an eine dem Zeitgeist verfallene Kirche offenbart. Die Wurzel dieser Erscheinungen liegt in einem unklaren Verh�ltnis zur Heiligen Schrift (Bibelkritik). Es gibt nur zwei M�glichkeiten: Entweder: Der P. geht weiter auf dem eingeschlagenen Weg. Dann verliert er mehr und mehr seine geistliche Vollmacht und wird mit der Endzeitkirche und -Gesellschaft eins, die auf das Kommen des Antichristen und seines falschen Propheten zusteuert. Dieser Weg ist der breite Weg der gro�en Masse, der ins Verderben f�hrt (Mt 7,13). Je mehr der P. sich dem Denken und Geschmack der "Masse" � etwa in Gestalt einer "Volkskirche" (im Neuen Testament gibt es so etwas nicht!) � anpasst, umso mehr wird er von dieser vereinnahmt und in seiner prophetischen Beauftragung gel�hmt werden. Umso mehr verliert er seine Kraft, "Salz der Erde" und "Licht der Welt" zu sein (Mt 5,13 ff.). Umso mehr wird er "lau" werden - und der HERR wird ihn � wie die Gemeinde von Laodiz�a � "ausspucken" aus seinem Munde (Offb 3,16). Oder: Der P. kehrt um. Er nimmt die Heilige Schrift und das Erbe der V�ter ernst, die in ihrer Zeit die Menschen aus einer oberfl�chlich gewordenen Orthodoxie zu einer Vertiefung ihres Glaubenslebens riefen. Dies wird sicherlich nicht der Weg der Mehrheit � auch nicht innerhalb des P. � sein, aber es ist der schmale Weg (Mt 7,14) der kleinen Schar, der in der Endzeit eine besondere Verhei�ung hat: "F�rchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben" (Lk 12,32).
Wie kann diese Umkehr aussehen? In Ankn�pfung an Philipp Jakob Speners programmatische Schrift nenne ich sieben "fromme W�nsche" (lat.: "Pia Desideria") an den P. (also nicht: des P.). Unter die Adressaten reihe ich mich ausdr�cklich ein, denn ich wei� sehr gut um meine eigene Unvollkommenheit.
Erstens: Wir Pietisten sollten wieder umkehren zum unverf�lschten, unverk�rzten, unfehlbaren und irrtumslosen Wort Gottes in Gestalt der Heiligen Schrift.
Wir sollten nichts zur Bibel hinzuf�gen und nichts von ihr wegnehmen (Offb 22,18 f.). Das heisst konkret: Wir sollten philosophische und theosophische Spekulationen (das sind Hinzuf�gungen!) ebenso vermeiden wie die Infragestellung und Verk�rzung des Wortes Gottes durch jegliche Form von Bibelkritik. Und vor allem: Wir sollten nicht so tun, als akzeptierten wir die Bibel als Gottes Wort, wenn sie uns etwas f�r unser Leben und unseren Glauben zu sagen hat, aber in allen anderen Fragen (Geschichte, Naturwissenschaft, Sch�pfung) sei sie ohne Bedeutung oder Kompetenz. Sicherlich: Die Bibel m�chte kein Naturkundebuch oder Geschichtsbuch im gel�ufigen Sinne sein, sondern ein "Glaubensbuch" (Joh 20,30 f.). Aber wo sie etwas �ber die Natur und die Geschichte berichtet (und das ist, wenn man es zusammennimmt, sehr viel!), da ist sie genauso von Gott inspiriert wie in anderen Fragen und somit ohne Irrtum und Fehler.
Philipp Jakob Spener schreibt in seinen "Pia Desideria": "Das Wort Gottes wird das vornehmste Mittel sein, das die Kirche braucht, um in einen besseren Stand zu kommen."
Zweitens: Allein der dreieinige Gott der Bibel � Vater, Sohn und Heiliger Geist � soll im Zentrum unseres Glaubens stehen, insbesondere Jesus Christus als der einzige Weg zu Gott dem Vater, als der einzige HERR und Erl�ser, der das vollst�ndige und vollkommene Opfer f�r unsere S�nden am Kreuz von Golgatha vollbracht hat (Hebr 9).
Wir Pietisten sollten Acht geben, dass wir im "�kumenischen Zeitalter" nicht einen anderen Christus annehmen, etwa den "Christus in der Hostie". Wir sollten auch keinen Christus verehren, der auf einer gnostisch-kabbalistischen Stufenleiter von Geistwesen steht oder uns in mystischer Weise in einer "Ikone" begegnet. Und vor allem keinen Christus, der in einer Linie mit Show-Unterhaltern und "Lachk�nstlern" zitiert wird. Denn dies ist nicht der biblische HERR Jesus Christus, sondern eine von Menschen erfundene irdische Gestalt. Bewahren wir als Pietisten doch die Ehrfurcht vor dem heiligen und allm�chtigen Gott!
Philipp Jakob Spener schreibt im Gegensatz zu den heutigen �kumenischen Bem�hungen, auch unter Pietisten und Evangelikalen: "Wir k�nnen einmal Gott nicht gen�gend Dank f�r solche Wohltat sagen, dass Er uns durch das selige Reformationswerk ... aus der R�mischen Babylonischen Gefangenschaft herausgef�hrt und in die selige Freiheit gesetzt hat."
Drittens: Wir Pietisten sollten mit der biblisch-reformatorischen Erkenntnis Ernst machen, dass der Mensch nicht aufgrund seiner eigenen Werke gerettet wird, sondern allein aufgrund der Gnade und Barmherzigkeit Gottes durch die Erl�sung Jesu Christi, die der bu�fertige S�nder im Glauben erfasst (R�m 3,24-28).
Gute Werke sind nicht Voraussetzung der Errettung, sondern deren - geschenkte und notwendige! � Folge (Jak 1,22 f.; 2,14 ff.). Das schlie�t jede Werkheiligkeit und selbstauferlegte Gesetzlichkeit ebenso aus wie die Vernachl�ssigung guter Werke und die "billige Gnade". Sowohl der Perfektionismus (selbstgemachte Vollkommenheit) als auch der Libertinismus (Freiz�gigkeit und Z�gellosigkeit) sind unbiblisch und vom �bel. Beide Str�mungen gab und gibt es im P.. Stattdessen sollte beachtet werden, dass Rechtfertigung, Wiedergeburt und Geistestaufe nicht verschiedene Stufen im Leben des Christen sind, sondern dass sie aufgrund des Gnadenwirkens Gottes am menschlichen Herzen Hand in Hand gehen, wobei die Erneuerung ein fortschreitender Prozess ist, der als Folge von Rechtfertigung, Wiedergeburt und Geistestaufe durch die Einwirkung des Heiligen Geistes im Gl�ubigen erfolgt.
Kaum jemand hat dies besser auf den Punkt gebracht als wiederum Spener: "Wir erkennen gern, dass wir einzig und allein durch den Glauben selig werden m�ssen und dass die Werke oder gottseliger Wandel weder viel noch wenig zu der Seligkeit tun, sondern solche allein als eine Frucht des Glaubens zu der Dankbarkeit geh�ren, in der wir Gott verbunden sind, da er bereits unserem Glauben die Gerechtigkeit und Seligkeit geschenkt hat. Und es sei fern von uns, von dieser Lehre nur einen Fingerbreit zu weichen. Lieber wollten wir das Leben und die ganze Welt fahren lassen, als das Geringste von derselben zur�cklassen."
Viertens: Wir Pietisten sollten zur�ckkehren zu der Erkenntnis und dem Vertrauen, dass Gott die Macht hat, durch sein richtig � und das hei�t: bibeltreu � gepredigtes Wort Menschen zu bekehren.
Wir sollten keine Formen, Mittel und Methoden in Gottesdienst und Evangelisation verwenden, die von diesem Wort ablenken oder gar in Widerspruch zu ihm treten. Konkret ergeben sich folgende Fragen: Stellen "Rahmenprogramme", die der Fernseh-Unterhaltungskultur entnommen sind, das "Wort vom Kreuz", das f�r diese Welt ein "�rgernis" ist (1. Kor 1,18 ff.), nicht auf die Ebene dieser Welt? Beseitigen sie damit nicht den Ansto� des Kreuzes Christi und machen es "weltf�rmig"? Geht damit nicht die eigentliche Bedeutung des Kreuzes Christi � und damit das Heil! � verloren? Kommt es nicht von daher, dass wir heute in vielen unserer Gemeinden ein verweltlichtes, fleischliches Christentum erleben, das letztlich kein Christsein im biblischen Sinne mehr ist? Sicherlich ist es dem allm�chtigen Gott nicht unm�glich, auch durch unpassende Umst�nde und Methoden Menschen anzusprechen und zu erretten (vgl. Phil 1,15-18). Aber sollten wir nicht doch zur Klarheit und Schlichtheit des biblischen Evangeliums und einer entsprechenden Umrahmung (z.B. durch biblisch tiefgr�ndige und in angemessener Weise, ohne �bergro�e Lautst�rke vorgetragene Lieder) umkehren?
Spener schreibt zur Frage des verweltlichten und fleischlichen "Christentums": "Wie viele gibt es, die ein so offenbar unchristliches Leben f�hren ... und sich mit fester Zuversicht einbilden, sie k�nnten ungeachtet dessen selig werden? Fragt man, worauf sich dasselbe gr�nde, so sagen sie, sie glaubten ja an Christus ... Sie haben eine fleischliche Einbildung ihres Glaubens ... welches ein so schrecklicher Betrug des Teufels ist, wie es kaum einen vergleichbaren Irrtum geben mag, einem solchen Hirngespinst eines selbstsicheren Menschen die Seligkeit zuzuschreiben."
F�nftens: Wir Pietisten sollten daran festhalten oder es wieder ganz neu lernen, die Wahrheit in Liebe zu sagen und aus Liebe die Wahrheit nicht zu verschweigen (vgl. Eph 4,15).
Tendierte man fr�her eher zur "Wahrheit ohne Liebe", so ist in unserer harmoniebed�rftigen Zeit das Pendel stark in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen. "Um der Liebe" willen wird fast jedem recht gegeben und die Wahrheit verschwiegen. Diese Tendenz macht auch vor uns Pietisten nicht Halt. Wer sich auf Gottes Wort beruft und es wagt, Irrlehren und Missst�nde beim Namen zu nennen, wird � auch in pietistischen Kreisen � unter Umst�nden schnell als "Friedensst�rer" und "Querulant" gebrandmarkt. K�nnen wir die Wahrheit nicht mehr ertragen? Wir haben doch die Heilige Schrift, die uns in den grundlegenden Fragen klare Wegweisung gibt! Wenn wir es nicht mehr wagen, uns auf die Bibel zu berufen, geben wir nicht nur die Wahrheit, sondern den HERRN selber preis! Wir wollen es ganz neu lernen, uns mutig zu Gott und Seinem Wort zu bekennen und dieses in Liebe, aber klar und unverk�rzt weiterzusagen!
Spener schreibt hierzu: "Um bei uns selbst die Wahrheit zu erhalten und auch sie den noch Irrenden beizubringen, ist das Disputieren nicht genug, sondern die heilige Liebe Gottes ist notwendig."
Sechstens: Wir Pietisten sollten uns fragen, ob wir auf Gedeih und Verderb in einer Kirche bleiben k�nnen, die sich in immer gr��eren Schritten von Gottes Wort und Seinen Geboten entfernt.
Haben Pietisten nicht jahrelang gesagt: "Wir harren noch aus, aber wenn die Homo-Segnung kommt, treten wir aus."? Jetzt ist die Homo-"Segnung" in etlichen Kirchen da � und was geschieht? Einige treten tats�chlich aus, von anderen werden neue Durchhalteparolen ausgegeben. Wer schweigt, macht sich mitschuldig. Auch wer bleibt, macht sich mitschuldig, wenn er durch sein Bleiben S�nde guthei�t und f�r andere ein falsches Signal setzt. Jeder pr�fe sich selbst im Angesicht Gottes und im Licht Seines Wortes, wie er sich in dieser endzeitlichen Situation verhalten soll.
Die Kirche zur Zeit von Philipp Jakob Spener war � trotz aller Missst�nde auch damals � noch nicht in einen solchen offensichtlichen Gegensatz zu Gottes Wort getreten, wie dies heute der Fall ist. Spener besa� noch Hoffnung f�r eine Reform der Kirche, die dann zum Teil auch eintrat. Gibt es auch heute noch solche Hoffnung? Ich wage es zu bezweifeln, da wir in einer endzeitlichen Lage stehen und die Zeichen der Zeit (z.B auch in Israel !) sich erf�llen.
Siebtens: Wir Pietisten sollten in froher Erwartung der Wiederkunft unseres HERRN Jesus Christus entgegenschauen und bereit sein f�r den Eintritt in Sein Reich.
Wie gerade erw�hnt: Die Zeichen mehren sich, dass der HERR bald wiederkommt und Seine Gemeinde um sich schart. Wir sollten allerdings nicht in den Fehler einiger pietistischer "V�ter" verfallen, die Wiederkunft Jesu Christi berechnen zu wollen. Alle, die dies versucht haben, haben sich geirrt. Dies musste so geschehen, da ein solches Handeln Gottes Wort widerspricht (Mt 24,36; Apg 1,7). Lasst uns stattdessen allezeit wachsam sein und noch andere Menschen in Wort und Tat zur Nachfolge Jesu einladen: durch Mission, Evangelisation und Diakonie, wie dies die Heilige Schrift gebietet und wie es die V�ter des P., der Erweckungsbewegung und der Gemeinschaftsbewegung immer getan haben.
Philipp Jakob Spener schreibt hierzu: "Vielmehr ist zu hoffen, dass mit heiligem Eifer gleichsam in die Wette die gesamte aus Juden und Heiden versammelte Kirche Gott in einem Glauben und dessen reichen Fr�chten dienen und sich aneinander erbauen werde."
Lit.: L. Gassmann, Pietismus � wohin? Neubesinnung in der Krise der Kirche, 2003 (dort zahlreiche Literaturhinweise).
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de