Wir leben heute nicht in einer bibelgläubigen und gottesfürchtigen Gesellschaft, sondern haben seit dem Triumph der Aufklärungsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert einen enormen Geschichtsverlust erlebt.
1. Gotthold Ephraim >Lessing sprach vom "garstigen Graben" zwischen Glauben und Geschichte. Und er hat nicht nur einen Graben, sondern drei Gräben behauptet: einen chronologischen, einen metaphysischen und einen existentiellen Graben.
a. Der chronologische Graben
bezieht sich auf den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es ist in Graben in der Zeit vorhanden. Lessing stellte sich die Frage: Wie können zeitgenössische Menschen etwas ernst nehmen im Sinne einer Verifikation, was in der Vergangenheit geschehen ist? Je weiter zeitlich entfernt etwas liegt, um so schwieriger ist etwas zu erkennen, manchmal aber auch, je näher etwas liegt, je nach dem, wie wir subjektiv damit behaftet sind.
b. Der metaphysische Graben
bezieht sich auf den Unterschied zwischen zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten. So lautet das Kernbegriffspaar bei Lessing in seiner Schrift "Die Erziehung des Menschengeschlechts".
"Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden",
sagt er. Er geht also von der Vorordnung der Vernunft aus und setzt diese über die Geschichte, die er als zufällige Verkettung von Ereignissen versteht. Vernunftwahrheiten schätzt er viel höher ein als das, was in der Geschichte sich vielleicht irgendwann einmal entfaltet oder nicht entfaltet hat. Wir können es ja wegen des chronologischen Grabens gar nicht nachprüfen. Lessing reißt also den Graben auf zwischen Wirklichkeit (= Geschichte) und Wahrheit (= Vernunfterkenntnis).
c. Das dritte ist der existentielle Graben ,
der Graben bezüglich der Existenz des Menschen, bezüglich der Unterschiede, welche zwischen den Menschen des ersten Jahrhunderts und den modernen Menschen des 18., 19., 20. oder 21. Jahrhunderts bestehen. Dass hier eine Distanz herrscht, hängt also eng mit dem chronologischen Graben zusammen.
Ein Geschichtsverlust liegt deshalb vor – bedingt durch drei Gräben, die wir nicht überspringen können. Lessing gäbe alles dafür, wenn ihm einer über diese Gräben helfen könnte, aber noch keiner hat es nach seiner Aussage geschafft.
2. In der Linie Lessings argumentierte Ernst Troeltsch . Auch er hatte seine Fragen an historische Dokumente und hat ja maßgeblich nach Semler die historisch-kritische Methode (Bibelkritik) ausgeprägt, wie sie im wesentlichen heute noch so besteht. Troeltsch gehörte zur Schule des >Historismus. Er war zunächst Theologe und später Geschichtsphilosoph, hat also die Fakultäten gewechselt, was mit seiner Biographie zusammenhängt. Troeltsch hat die drei Prinzipien Kritik, Analogie und Korrelation aufgestellt.
a. "Kritik" besagt, dass historische Aussagen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen sind, dass etwas Absolutes in der Geschichte nicht wahrgenommen werden kann. Alles ist dem Maßstab der menschlichen Vernunft zu unterwerfen – Rationalismus verbunden mit >Relativismus im Blick auf geschichtliche Aussagen, geschichtliche Fakten. Philosophische Wahrheit wird über historische Wirklichkeit gestellt, Vernunft über Geschichte, auch über biblisch überlieferte Geschichte, welche mittels der gefallenen menschlichen Vernunft analysiert, zerpflückt und neu zusammengesetzt wird, je nach persönlicher subjektiver Ansicht und Erkenntnis.
b. Das Prinzip der "Analogie" postuliert die prinzipielle Gleichartigkeit des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschehens. Das, was "schon immer so war", werde auch "immer so sein". Es gibt keine Einbrüche in die Kontinuität der Geschehenszusammenhänge. Die Auferstehung und Wunder Christi sind analogielos und können daher nach diesem Prinzip nicht wirklich geschehen sein. Sie würden die Gleichartigkeit des Geschichtsverlaufs durchbrechen. In der Evolution slehre hängt dies mit dem Prinzip des "Uniformitarianismus" zusammen. Auch hier wird das Geschehen als immer gleichartig betrachtet. Es gibt kein Eingreifen einer höheren Macht.
c. Auch das dritte Prinzip, die "Korrelation" , sieht das Weltall als geschlossenes System von Ursache und Wirkung und lässt keine "Sprünge", keine Brüche zu. Übernatürliche Ereignisse sind auszuschließen, alles ist streng determiniert und nach dem Kausalitätsprinzip zu betrachten.
Was nicht geschehen kann, wird nach dieser Sicht aus unserer Nichtwahrnehmungsmöglichkeit geschlossen. Aber das ist ein Sprung über die Objektivität hinaus. Ist das, was wir nicht erkennen können, wirklich oder unwirklich? Ist es überhaupt vorhanden oder liegt seine Nichterkennbarkeit an unserem begrenzten Denken und Verstand? Diese Fragen stellen sich. Ich würde sagen, dass unsere Erkenntnis verfinstert ist (vgl. Röm 1,19) und dass daher viel mehr möglich ist als das, was wir wahrnehmen und denken können. "Die Geheimnisse Gottes zu erkennen, heisst ihn anzubeten" (Melanchthon).
3. Der dritte große Denker, der zum Geschichtsverlust beigetragen hat, zumindest zur Nichterkennbarkeit der Geschichte, wie sie wirklich ist, war lange vor Troeltsch der Königsberger Philosoph Immanuel >Kant . Für Kant demonstriert die biblische Geschichte nicht, wer und wie Gott ist, sondern sie illustriert nur, was wir auf vernünftiger oder moralischer Grundlage schon von Gott denken und glauben. Das heisst, zuerst ist die Vernunft- und Moralreligion vorhanden, dann erst kommen die Folgerungen daraus, nämlich die Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Was in der Bibel als Geschichte beschrieben wird, gilt als Illustration des menschlichen Denkens. Kant vollzog eine konsequente Säkularisierung der Erkenntnistheorie. Durch ihn kam die Diastase (Trennung) zur Betonung zwischen Glauben und Wissen, welche das abendländische Denken bis heute prägt. Kant hat das Wissen bis zur allerhöchsten Spitze getrieben. Er wollte "dem Glauben Platz machen", indem er behauptete, über Gott könnten wir nichts wissen, wir könnten nur an ihn glauben. Lediglich unser moralisches Empfinden und der gestirnte Himmel über uns deuten auf Gott hin. Kant wollte den Raum freimachen für den Glauben, aber für einen Glauben, der über der Geschichte "schwebt", der übergeschichtlich ist. Kant war ja mit Kategorien der >platonischen Ideenlehre behaftet – und die Konsequenz ist der überweltliche, nicht zu beweisende Gott. Konsequenterweise hat er sich stark gegen Gottesbeweise gewehrt, wie sie etwa Thomas von Aquin im Mittelalter vertreten und entfaltet hatte.
Kants Philosophie hat zu einem enormen Geschichtsverlust geführt, der sich bis heute auswirkt. Er wollte eine Art Übersphäre dem Glauben und Gott sichern, die sich nicht in der Geschichte nachprüfen und verifizieren lässt. Gott ist praktisch etwas Schönes, das höchstens noch im moralischen Gewissen wahrgenommen wird, aber er schwebt über unseren Köpfen, er geht nicht in die Geschichte hinein, so dass wir hier Spuren und Wirkungen wirklich wahrnehmen könnten. Von Kant stammt das bekannte Modell, das auch den jungen Karl Barth, den jungen Paul Althaus und andere geprägt hat: keine Heils- und Endgeschichte, sondern nur eine Übergeschichte.
In der Folge dieser philosophischen Weichenstellungen zog sich die Theologie immer weiter aus der Geschichte zurück. Daniel Friedrich Ernst >Schleiermacher etwa postulierte für die Gotteserfahrung die Provinz des Gefühls im Sinne einer intuitiven und durchaus emotionalen Gotteserkenntnis im Anschauen und Fühlen des Universums. Albrecht Ritschl hat die Sittlichkeit, Vertreter der >Dialektischen Theologie haben "das Wort" als einzigen Zugang zu Gott betont. Gerade der junge Karl Barth postulierte nur die Übergeschichte, die nicht verifizierbar sei. Noch extremer betrieb >Rudolf Bultmann die Herauslösung des Alten Testaments mit seinen vielen Geschichten aus der Entscheidungssphäre und die Reduktion eschatologischer Aussagen auf die eigene innere Existenzerfahrung des Menschen. Die Folge dieses Geschichtsverlustes war, dass die Heilsgeschichte völlig in eine Übergeschichte, ja noch schlimmer: in eine bloße "Innengeschichte" des Menschen überging – eine Vorstellung, die am Ende des 20. Jahrhunderts in der ">tiefenpsychologischen Interpretation" biblischer Texte etwa durch Eugen >Drewermann eine weitere Steigerung erfuhr.
Es gab und gibt trotz dieses Geschichtsverlustes auch in jüngerer Zeit noch Vertreter einer heils- und endgeschichtlichen Sicht, auch in der Universitätstheologie, etwa Oskar Cullmann oder Missionstheologen wie Karl Hartenstein, Walter Freytag u.a. Diese stimmen trotz manchem Unterschied im Detail darin überein, dass Gott einen Plan hat, der sich in wirklicher Geschichte in chronologischen Abläufen erfüllt, dass es echte Prophetie in der Bibel gibt, die uns diesen Plan enthüllt, und dass Jesus Christus im buchstäblichen Sinn wiederkommen und sein Reich errichten wird. Diese Sicht stimmt m.E. auch mit der Bibel überein (Eschatologie, Heilsgeschichte).
Lit.: L. Gassmann, Was kommen wird. Eschatologie im 3. Jahrtausend, 2002.
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de