Rationalismus (von ratio, lat. Rechenschaft, Vernunft) (R.) ist mit der Frage nach Glaube und Erkenntnis verbunden, die in der Christenheit recht früh auftauchte und welche die Theologie immer wieder beschäftigte. Deutlich wird dies an den drei im folgenden exemplarisch aufgeführten Zitaten theologischer Denker der Alten und Mittelalterlichen Kirche. >Tertullian (ca. 160-ca. 220) hatte gesagt: credo, quia absurdam (ich glaube, weil es ungereimt ist). Mehr als 800 Jahre später prägte Anselm (1033-1109) die Formel: Credo, ut intellegam (ich glaube, damit ich erkenne), wohingegen Abaelard (1079-1142) gerade umgekehrt feststellte: intellego, ut credam (ich erkenne, um zu glauben).
Vernunft und Natur hatten bereits in der >Scholastik des Mittelalters mit die Funktion, nach welcher daraus Erkenntnis nicht nur der Welt, sondern auch Gottes möglich sein sollten (vgl. Gottesbeweise). Die Scholastik verband Vernunfterkenntnis und Glauben, da die Vernunft am göttlichen Licht teilhabe und natürliche Theologie als eine Vorstufe der geoffenbarten Gotteserkenntnis aufzufassen sei. Die Frage ist, ob sich hier nicht Grundgedanken finden, die einige Jahrhunderte später in der Aufklärung weiterentwickelt zum Durchbruch kamen.
Während die Scholastik Vernunft und Glauben miteinander verband, trennten Philosophie und Wissenschaft im 18. Jahrhundert Naturerkenntnis von Theologie und christlichem Glauben. Neu war dabei nicht die Berufung auf die Vernunft, sondern die Emanzipation der Vernunft vom christlichen Glauben. Die so als autonom verstandene Vernunft bestritt die Bindung an eine höhere Macht. Dabei waren die Vertreter der Aufklärungsphilosphie keine Atheisten, sondern vertraten eine Religion, die sich aus der Vernunft ableiten ließ oder dieser zumindest nicht widersprach. Damit ging freilich eine Einschränkung überlieferter Glaubensinhalte einher, was sich jedoch unterschiedlich auswirkte. Das war bereits im 17. Jahrhundert im Umkreis der englischen >Deisten (z. B. John Locke) der Fall. Das Vernunftverständnis der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts war insofern weitreichender, da es mit scharfer Kritik und Ablehnung am Christentum verbunden war (z. B. Voltaire). Diese Schroffheit war in der deutschen Aufklärung in aller Regel nicht vorhanden, wobei auch in ihr die Vernunft die Offenbarung auslegte, ihr damit faktisch übergeordnet war, wennschon gesagt wurde, die Offenbarung sei der Vernunft inhaltlich übergeordnet ( z. B. Christian Wolff).
Zu beachten ist, dass der theologische R. Folge des philosophischen R. war, indem sich dieser auf jenen übertrug. Der theologische R. lässt sich am besten als die im 18. Jahrhundert aufkommende und eine zeitlang herrschende Richtung protestantischer Theologie bestimmen. Da die Bibel an der Vernunft gemessen wurde, war Bibelkritik die Folge (als deren Initiator wird häufig Johann Salomo Semler, 1725-1791, angesehen). Die "Neologie" löste eine praktische Form der Religiosität von der Schriftoffenbarung. Bibel und Gottes Wort fielen nicht mehr in eins, sondern wurden voneinander getrennt. Rationalistische Theologie sah ihren Schwerpunkt in der Christologie, besser: in einem Teil der Christologie, da sie sich fast ausschließlich mit dem historischen Jesus beschäftigte, dessen Person und Lehre, wie dies dann in der zweiten Hälfte des 19, Jahrhunderts in der Leben-Jesu-Forschung wiederum in der protestantischen Theologie beherrschend wurde (vgl. Albert Schweitzer: Geschichte der Leben Jesu Forschung, 1906; s. Jesus Christus; Konsequente Eschatologie). Das Hauptinteresse galt dabei der >Ethik Jesu, die als dessen Hauptlehre angesehen wurde. Bestritten wurde seine Auferstehung. Die in der Bibel berichteten >Wunder wurden als vernünftig erklärbare Vorgänge bezeichnet. Neben dieser fast ausschließlich am historischen Jesus bestehende Interesse wurde die Vorsehung wichtig. Zwar kann von Gott als einem allmächtigen Urheber und Lenker der Welt gesprochen werden, aber das geschieht nur in den Kausalzusammenhängen. Damit wird der Grund für eine von der Technik beherrschten Welt gelegt. Ziel der Weltgeschichte ist das Reich Gottes, in welchem glückliche Zustände herrschen. Das Reich Gottes wurde letztlich innerweltlich verstanden. Schließlich wurde die Unsterblichkeit der Seele bzw. des Geistes betont. Einflussreiche Vertreter des theologischen R. waren J. A. L. Wegscheider (1771-1849), dessen Institutiones theologiae christianae dogmaticae (1815, 8. Aufl. 1844) die Gedanken des theologischen R. weit verbreiteten, und F. Röhr (1777-1848). Es waren nicht allein Theologen, die einen theologischen R. vertraten. Wirkung unter den Gebildeten hatte Gotthold Ephraim >Lessing (1729-1789) mit seinen Schriften und mit der von Reimarus verfassten und von Lessing herausgegebenen "Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes". Diese Schrift hinterließ den Eindruck eines Angriffs auf das Christentum, welcher noch durch Lessings "Anti-Goetze" verstärkt wurde.
Unter Suprarationalismus (lat.) wird eine theologische Haltung verstanden, welche ein höheres Sein annimmt, das über die irdische Wirklichkeit hinausreicht. Der Glaube an eine übernatürliche Offenbarung wird damit denkmöglich. Suprarationalismus ist als historische Erscheinung betrachtet diejenige Richtung, die um 1800 eine alle Vernunft übersteigende >Offenbarung Gottes gegen den R. betonte. Nicht übersehen werden sollte, dass der R. auch kontraproduktiv wirkte, indem er kirchliche Kreise, die der Aufklärung zuzurechnen waren oder dieser zumindest nahe standen, zum Widerstand herausforderte und eben dadurch den Suprarationalismus hervorbrachte, der auch von den Ideen der Aufklärung nicht unbeeinflusst war, aber doch Vorbehalte und Befürchtungen hatte und sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts teils heftige Auseinandersetzungen mit dem theologischen R. lieferte. Der Suprarationalismus nahm Kants Kritik der theoretischen Gotteserkenntnis auf und verwandte diese für eine unmittelbare Offenbarung Gottes in der Schrift (z. B. Claus Harms). Freilich gab es auch auf Vermittlung bedachte "Mischpositionen", die eine Verbindung von unmittelbarer Offenbarung mit der Vernünftigkeit des Christentums anstrebten (z. B. K. G. Bretschneider). Zu fragen bleibt, ob dadurch Verbindungen zur mittelalterlichen Scholastik bestehen, zumindest im Anliegen.
Der Vorwurf des R. wurde später vor allem (polemisch) gegen die Aufklärung des 18. Jahrhunderts erhoben (z. B. von Friedrich August Gottreu Tholuck, 1799-1877). Die von Idealismus, >Romantik, Erweckungsbewegung und Konfessionalismus beeinflusste Theologie des 19. Jahrhunderts betrachtete den R. als flache Geisteshaltung, die den Atheismus begünstigte. Dieser Eindruck wurde vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Einfluss der >Dialektischen Theologie (Karl Barth) verstärkt, welche in der Theologie Rudolf Bultmanns und seiner Schule einen theologischen Neoliberalismus erkannte. Gegen die hauptsächlich von der Bultmannschule angestoßene, in mancherlei Ausformungen auftretende moderne Theologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat z. B. Gerhard Bergmann den Vorwurf des Neoliberalismus erhoben.
Sowenig der R. dem biblischen Verständnis gerecht wird, sowenig entspricht ihm der Irrationalismus. Dem biblischen Vernunftverständnis werden beide nicht gerecht (vgl. Röm 12,1f.). Wesen und Irrtum der modernen Theologie sind keineswegs nur deren R., sondern auch deren Irrationalismus. So haben beispielsweise Felix Flückiger (Vernunft und Glaube) und Francis Schaeffer (z. B. Und er schweigt nicht) festgestellt, dass das Gottesverständnis der modernen Theologie von R. und Irrationalismus beeinflusst ist.
Der Vorwurf des frommen R. wurde immer wieder erhoben. Unter frommen R. fiele z. B. das Schriftverständnis der altprotestantischen Orthodoxie, die durch scharfsinnige Begründung der Verbalinspiration den Wortlaut der Heiligen Schrift absichern wollte und damit gegen rationalistische Bestreitung unanfechtbar machen wollte. Der Vorwurf wird aber auch gegen tatsächlichen oder vermuteten christlichen >Fundamentalismus der neueren Zeit erhoben (z. B. gegen die Chicagoer Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel). Dieser Vorwurf taucht nicht allein bei Vertretern eines theologischen Neorationalismus bzw. Neoliberalismus auf, sondern auch bei Theologen, die sich als schrift- und bekenntnisgebunden verstehen (z. B. Hellmuth Frey, Um den Ansatz theologischer Arbeit, in: Abraham unser Vater <Festschrift für Otto Michel zum 60. Geburtstag>, 1963; Heinzpeter Hempelmann). S. hierzu: Bibel; Bibelkritik.
Glaube und Vernunft sind keine sich ausschließenden Gegensätze. Der Glaube hebt die Vernunft nicht auf, wie andererseits die Vernunft den Glauben nicht aufheben muss. Der Glaube ist nicht unvernünftig, aber er ist nicht der Vernunft unterworfen. Die Vernunft will durch den Heiligen Geist erneuert und geleitet sein. Macht auch der Glaube nicht unvernünftig, sondern in gewisser Weise erst recht vernünftig im Denken und Handeln (Röm 12,1), so kann das Vertrauen auf die autonome Vernunft zu unvernünftigem Denken und Handeln führen. Das Vertrauen in die Ratio allein fördert leicht die Irrationalität. Deshalb wird die rechte Inbeziehungsetzung von Glaube und Vernunft eine geheiligte Vernunft hervorbringen, während bei Ausbleiben dieser rechten Inbeziehungsetzung eine unvernünftige Heiligkeit auftritt oder andererseits eine unheilige Vernunft, die letztlich unvernünftig ist. Der Weg des Glaubens, der nicht unvernünftig ist, verläuft jenseits einer glaubenslosen Vernunft und eines vernunftlosen Glaubens (s.ausführlicher Glaube und Vernunft).
Der R. als geistes- bzw. kirchengeschichtliche Epoche (3. Phase der Aufklärung) war eine theologisch und kirchlich irregeleitete Zeit. Die als autonom geltende Vernunft erwies sich bei näherer Betrachtung als in manchem unvernünftig. Der R. verstanden als geistige und geistliche Haltung ist eine Fehlhaltung und wird weder der Offenbarung Gottes noch der Vernunft gerecht, wenn er Gottes Offenbarung der Vernunft unterwirft. Wenn dies geschieht, dann wird die Vernunft tatsächlich zur Hure (Luther) und unvernünftig. Aber genau dies scheint zum Wesen theologischen R.s zu gehören. So ist die Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Vernunft im (theologischen) R. eine verfehlte. Anstatt die Vernunft durch die Offenbarung zu heiligen, bemächtigt sich die sich autonom fühlende Vernunft der Offenbarung, beurteilt diese nach ihren Maßstäben, schränkt sie nach diesen ein und korrumpiert sie damit. Theologischer R. schadet Theologie und Kirche, wie sich dies auch unschwer kirchenhistorisch aufweisen lässt.
Lit.: G. Bergmann, Alarm um die Bibel, 5. Aufl. 1974; ders., Kirche am Scheideweg. Glaube oder Irrglaube, 1967; K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 1947; F. Flückiger, Existenz und Glaube; E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie, Bd. 5, 1954; H. J. Iwand, Glauben und Wissen, 1962; F. Schaeffer, Und er schweigt nicht, 1975; A. Schweitzer, Geschichte der Leben Jesu Forschung (1906, erweitert 1913, seither mehrere Auflagen); H. Thielicke, Mensch werden, 1976; J. A. H. Tittmann, Über Supranaturalismus, Rationalismus und Atheismus; 1816.
Walter Rominger
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8. Kleines Ideologien-Handbuch
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