Der Ausdruck selber begegnet erst am Beginn der Neuzeit im Jahre 1577. Faktisch jedoch wird unter Semipelagianismus (lat. etwa Halbpelagianismus) eine im 5. Jahrhundert n. Chr. vor allem in Frankreich aufkommende Lehre verstanden, die gegen Pelagius an der Erbsünde festhält, aber gegen Augustinus in Übereinstimmung mit Pelagius die Freiheit der Glaubensentscheidung und das Heil für alle Menschen vertrat. Der Semipelagianismus versucht, in der Gnadenlehre eine Position zwischen Augustinus und Pelagius einzunehmen, wobei er faktisch ein Zusammenwirken zwischen Gott und Mensch zum Heil bedeutet (Synergismus).
Augustinus Prädestinationslehre fand nicht durchweg Anerkennung. Einwände erfolgten vor allem aus dem südgallischen Mönchtum, da dieses einen Widerspruch zum mönchischen Vollkommenheitsideal feststellte. Damit kam die Freiheit des menschlichen Willens bei der Frage nach dem Heil wieder ins Blickfeld. In den später sog. "semipelagianischen Streitigkeiten" wollten Augustinus` Gegner die Freiheit des Menschen bewahren und lehnten die doppelte Prädestination ab. Johannes Cassius (360-430/35), ein Abt aus Marseille, versuchte einen Kompromiss, indem er die göttliche Gnade für das Wollen und Vollbringen vertrat, gleichzeitig aber den guten Willen des Menschen anerkannte, da dieser zwar geschwächt, aber nicht gänzlich aufgehoben sei. Prädestination sei lediglich das Vorauswissen Gottes, wie der Mensch sich verhalte, keineswegs aber eine Einschränkung von Gottes Heilswillen (Inst. XII, Coll. XIII).
Gegen Augustinus brachte Vinzenz von Lerinum († vor 450) das Traditionsargument vor; demnach ist eine Lehre häretisch, wenn sie von der Lehre der Kirchenväter abweicht. Nur was überall, immer und von allen geglaubt wurde, darf nach Auffassung des Vinzens von Lerinum bewahrt werden ("Communitorium" 434). Dem Mönch Prosper von Marseille und späteren Bischof von Aquitanien († 455) gelang es nicht, gegen Cassian die augustinische Lehre zu verteidigen ("Contra Collatorum" 431/34), obwohl er bei Papst Coelestin (Papst 422-433) Unterstützung fand. Trotzdem herrschte im südgallischen Episkopat für einige Jahrzehnte der Semipelagianismus Auch wenn dieser Begriff damals noch nicht existierte, sondern erstmals 1577 in der Konkordienformel auftaucht ("halber Pelagianismus", FC Epitome II), so doch die Sache, die er bezeichnet. In der für die Synode von Arles (470/71) von Bischof Faustus (405/10-490/500), dem ehemaligen Abt von Lerin, verfassten Schrift "De gratia dei" vertrat dieser die universalistische Deutung der christlichen Erwählung. Faustus zufolge kann sich der Mensch aus eigenem Willen, ohne der zuvorkommenden Gnade Gottes zu bedürfen, Gott zuwenden. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts wurde auf Betreiben Caesarius, des Bischofs von Arles (†542) mit Unterstützung Roms auf der zweiten Synode von Orange (529) der Semipelagianismus verurteilt. Die Verurteilung des Semipelagianismus wurde kurz darauf unter Papst Bonifazius II. (530/32) ins Corpus Iuris Canonici aufgenommen. Somit ist die Lehre Augustinus zur Grundlage der Soteriologie geworden, nachdem bereits die Synode von Karthago (418) so votiert hatte.
Ist auch Augustinus Lehre offiziell die Grundlage der Soteriologie geworden, so hat sich faktisch doch der Semipelagianismus in der römisch-katholischen Kirche durchgesetzt. Luthers Auseinandersetzung sowohl mit der herrschenden Kirche als auch mit dem humanistischen "Reformer" Erasmus von Rotterdam (1466/69-1539) galt einem Semipelagianismus; schließlich lehrten beide, der Mensch könne etwas zu seinem Heil beitragen, habe also, was das Heil anlange, einen freien Willen, der mit der Gnade zusammenwirke. Erasmus vertrat in seiner Schrift "De libero arbitrio", der freie Wille bewirke "noli non nisi" (nicht nichts), auch wenn Erasmus das meiste der Gnade Gottes zuschrieb. Luther musste diesen Synergismus ablehnen, da damit die Heilsgewissheit nicht mehr gegeben sei, wenn der Mensch etwas – und sei es auch wenig – zu seinem Heil beitragen könnte oder müsste (vgl. "De servo arbitrio").
Wenig später tauchte der Sache nach der Vorwurf des Semipelagianismus auch innerhalb des Katholizismus auf. Die Dominikaner warfen dem spanischen Jesuiten Luis de Molina (1535-1600) Semipelagianismus vor; dessen Grundidee besagte eine Steigerung der menschlichen Freiheit und eine Reduktion der Mitwirkung Gottes und der Wirksamkeit der Gnade. So wie zwei Pferde zusammen einen Lastkahn ziehen, so wirken Gott und Mensch zusammen.
Offiziell ist Augustinus Lehre die Grundlage der Soteriologie geworden und der Semipelagianismus verworfen worden (vgl. die beiden Synoden: Karthago 418, 2. Synode von Orange 529). In der Realität aber hat sich die Kirche wieder Pelagius angenähert und vertritt einen Semipelagianismus
"Zwar hat sich grundsätzlich in der Kirche Augustinus, faktisch jedoch der Semipelagianismus durchgesetzt" (Gerhard Ruhbach, ELThG, Bd. 3, Semipelagianismus 1826).
Aber das trifft nicht allein für die römisch-katholische Kirche zu, sondern auch für die lutherische und allem Anschein nach auch für die reformierte. Denn auch in der sich auf Luther berufenden Konfession hat "Erasmus schließlich triumphiert" (Wilhelm Maurer, Offenbarung und Skepsis, in: ders., Kirche und Geschichte, Bd. 2, Semipelagianismus 395).
Der Semipelagianismus ist nicht in erster Linie ein historisches und konfessionelles, sondern ein immerwährendes und konfessionsübergreifendes Phänomen und eine immerwährende Versuchung. Er ist die im allgemeinen faktisch herrschende Sicht, da eine synergistische Heilserlangung einleuchtender und menschlichem Denken näherstehend ist als eine prädestinatianische Heilszuteilung. Wurde sie als falsch erkannt, so waren das m.E. Sternstunden der Christenheit. Die Gefährlichkeit des Semipelagianismus und Synergismus besteht darin, dass er Heilsgewissheit nicht zu vermitteln vermag, welche jedoch heilsnotwendig ist. Die Anerkennung der sog. "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" (GER) durch evangelische Kirchen (Augsburg, Reformationstag 1999) bedeutet nicht weniger als die Zustimmung zum Semipelagianismus, da die GER die römisch-katholische synergistische Gnadenlehre vertritt. Dass diese Absage der biblisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre einen Verlust der Heilsgewissheit bedeutet, ist das eigentlich bedauerliche an diesem von doch recht vielen gelobten Vorgang, da damit das Heil des Christen betroffen ist. Die faktische Bedeutung des Semipelagianismus ist erdrückend. Er herrscht, mehr unbewusst als bewusst, quer durch alle Konfessionen vor.
Zur biblischen Beurteilung: Erwählung; Glaube; Erlösung; Jesus Christus.
Lit.: F. Loofs, Semipelagianismus, RE (Realenzklopädie für protestantische Theologie und Kirche), hg. v. A. Hauck, 3. Aufl. Bd. XVIII, 1906, 102 ff.
Walter Rominger
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