Liberalismus (lat. liber "frei") meint die freie Entfaltung des einzelnen Individuums und lehnt damit die Einschränkung wenn auch nicht grundsätzlich, so doch so weit als möglich ab. Im Zentrum seiner Ideen steht das Individuum, dem der Vorzug vor dem Kollektiv gegeben wird. Liberalismus zeichnet sich durch Fortschrittsgewissheit, Harmonieglaube, optimistische Weltsicht aus und will Toleranz. Der religiöse Liberalismus lehnt dogmatische Bindungen so weit als möglich ab und strebt ein im Grunde dogmenfreies Christentum an. Beim Wirtschaftsliberalismus überlässt der Staat Produktion und Preisbildung den einzelnen Wirtschaftpartnern. Als eine Folge oder Erscheinung kann der Kapitalismus betrachtet werden.
Der Begriff Liberalismus wird hergeleitet von dem spanischen Parteinamen "lor liberales", was die Anhänger der spanischen Verfassung von 1812 bezeichnete. Der Liberalismus lässt sich auf die Aufklärung und den dieser längst vorangehenden Humanismus zurückführen. Beide Epochen oder: Bewegungen trauten dem einzelnen Individuum hohe rationale Fähigkeiten zu und strebten die Selbstbestimmung des eigenen Lebens an (Rationalismus). Die gedanklichen Wurzeln des Liberalismus liegen in der Naturrechts- und Aufklärungsphilosophie, besonders Englands (Hume, Locke) und Frankreichs, aber auch im deutschen Idealismus Kants (1724-1804) und Hegels (1770-1831) und in bürgerlichen Wirtschafts- und Sozialtheorien. Um die individuelle Freiheit entfalten zu können, wendet sich der Liberalismus gegen eine absolute Staatsmacht sowie gegen kirchliche Bevormundung und will von – seiner Meinung nach – veralteter Denkweise und Glauben befreien.
Der Liberalismus ist eine der großen politisch-wirtschaftlichen Strömungen der letzten drei Jahrhunderte und hat seinen Schwerpunkt, übrigens auch als theologischer Liberalismus, im 19. Jahrhundert. Der Liberalismus gilt als eine der drei großen Strömungen neben dem >Konservatismus (als Reaktion auf die französische Revolution) und dem >Sozialismus (im Zusammenhang mit der Industrialisierung). Geschwächt wurde der Liberalismus im 20. Jahrhundert durch den Nationalsozialismus, lebte aber nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf, wenn auch mehr im Sinne liberaler Verfassungs- und Wirtschaftsordnungen, wohingegen liberale Parteien (wie die deutsche FDP) nur Minderheitenpositionen erreichten.
Der Liberalismus sieht vor, die Funktion des Staates auf den Schutz von Personen und Eigentum einzuschränken. Staatsfeindlichkeit ist den meisten liberalen Staatstheorien trotzdem nicht vorzuwerfen, auch wenn dieser Vorwurf von konservativer und sozialistischer Seite schon erhoben wurde, denn die meisten liberalen Staatstheorien weisen dem Staat als Aufgabe die Sicherung des Gemeinwohls zu. Der Liberalismus ist für den Staat aber insofern wichtig, als er im 19. Jahrhundert in Deutschland und weiten Teilen Europas die Herausbildung des Rechts- und Verfassungsstaates und des Parlamentarismus bewirkte und ebenso den Gedanken des Selbstbestimmungsrechtes der Völker aufkommen ließ.
Im 19. Jahrhundert sehen liberale Theorien die Lösung der sozialen Frage in der Selbsthilfe. Diese Vorstellung blieb jedoch eine Minderheitenposition in der damaligen Zeit und war deshalb zu schwach, um etwas zu bewirken, so dass dadurch das Auseinanderklaffen von Arbeiterschicht und Bürgertum und die Ausbreitung des Sozialismus nicht aufgehalten werden konnten.
Von Anfang an hat der Liberalismus gegenüber Religion und Kirche ein distanziertes Verhältnis. Seine Forderung nach Religionsfreiheit und religiöser Toleranz ist hauptsächlich pragmatisch bestimmt. Mit der römisch-katholischen Kirche entstehen des Öfteren Konflikte, da die römisch-katholische Kirche einen umfassenden Anspruch erhebt, was liberalem Denken, das den Individualismus vertritt, entgegensteht, während es mit einem Teil des Protestantismus eher Berührungspunkte gibt (Individualität der Gottesbeziehung). Da seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Trennung von Staat und Kirche zwar keine gänzliche, jedoch eine fortgeschrittene und weiter fortschreitende ist, hat der Laizismus des Liberalismus nicht mehr diesen Stellenwert, ohne jedoch verschwunden zu sein (aus der FDP kommt von Zeit zu Zeit die Forderung, die Kirchensteuer abzuschaffen).
Dem Liberalismus kommt das Verdienst zu, wesentlich für die Demokratie gewirkt zu haben. Ohne ihn dürfte diese kaum denkbar sein. Seine Vorstellungen lassen sich eigentlich nur in einer demokratischen Regierungsform umsetzen. Die persönliche Freiheit wird liberalen Vorstellungen zufolge durch die Freiheit des anderen begrenzt. Diese >Freiheit des liberalen Verständnisses, die rein immanent und am einzelnen Individuum orientiert ist, entspricht nicht der Freiheit, wie sie das Neue Testament kennt. Diese hat niemand aus sich selbst; zu dieser
"hat uns Christus befreit" (Gal 5,1)
und diese ist da,
"wo der Geist des Herrn ist" (2. Kor 3,17).
Die durch Christus und seinen Geist geschenkte Freiheit ist nicht mit sich selbst zufrieden und rein selbst bezogen. Sie findet nicht ihre Grenze an der Freiheit des andern und überlässt damit nicht den andern sich selbst. Sie ist nicht gleichgültig gegenüber dem Nächsten. Sie gelangt vielmehr durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten zur Entfaltung und zu ihrer Bestimmung.
S. auch: Liberale Theologie; Aufklärung; Rationalismus; Selbstverwirklichung.
Lit.: Art. Liberalismus in: Evangelisches Kirchenlexikon (EKL), 3. Aufl., Bd. 3, Sp. 98-100 v. T. Schiller; Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde (ELThG), Bd. 2, S. 1240 v. J. Douma; Evangelisches Soziallexikon (ESL), 7. Aufl., Sp. 825-829, v. K. Holl; Evangelisches Staatslexikon (EStL), 2. Aufl., Sp. 1476-1487: I. Der Liberalismus als politische und wirtschaftstheoretische Strömung, II. Rechtliche Wirkung und Würdigung des Liberalismus, v. T. V. Heuß u. I. v. Münch; Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Bd. 4, Sp. 344-349: Soziologisch und wirtschaftssoziologisch, v. L. v. Wiese.
Walter Rominger
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