Der Begriff "Postmoderne" (P.) versteht sich als Reaktion auf die Moderne, an welcher die P. die grundlegende Subjektorientiertheit, Zielgerichtetheit und den grundlegenden Optimismus zu kritisieren hat, welcher ganz bewusst die autonome Pers�nlichkeit gef�rdert habe und an der Vernunft orientiert sei. Im Gegensatz zur Moderne die meint, die Wirklichkeit mit technisch-rationaler Vernunft erfassen zu k�nnen, bestreitet dies die P., die lediglich jeweils Teile der Wirklichkeit zu erkennen glaubt, weshalb es ganz verschiedene Zug�nge zur Erkenntnis g�be, mithin der Pluralismus gewollt sei. Der heutige Gebrauch des Begriffes P. in Gesellschaft, Kultur usw. geht auf J. F. Lyotard zur�ck (La condition postmoderne, 1979, dt. Das postmoderne Wissen), der das Wissen der modernen Gesellschaft untersuchte. Ist auch die P. als Reaktion auf die Moderne zu sehen, so bleibt dennoch die Frage, ob sie deren Vollendung ist, was bis heute unbeantwortet geblieben ist. Die Frage nach der P. wirft allerdings die Frage nach der Moderne und dem Verh�ltnis beider zueinander auf (Modernismus).
(a.) Zuerst wurde der Begriff "postmodern" im hispanoamerikanischen Sprachgebrauch und in der Literaturkritik durch Frederico de Quiz (1885-1966) benutzt und sollte Reaktion auf "die Exzesse des Modernismus" sein. P. wurde rasch auf verschiedene Bereiche der Kunst angewandt. Arnold Toynbee (1889-1975) verstand in seinem 1947 erschienenen Buch "A Story of History" unter P. den Wandel vom nationalstaatlichen Denken in der Politik zur globalen Orientierung (Globalisierung).
(b.) Der Begriff "postmodern" wurde schon als R�ckkehr zur Vergangenheit verstanden, w�hrend andererseits mit P. auch schon � vor allem in den USA � die totale Erneuerung durch "futurische Revolte" verstanden wurde (Ihab Hassan, Susan Sontag, Leslie Fiedler). Der Begriff P. scheint damit nicht eindeutig besetzt. Ihm haftet in der Tat Unsicherheit und Unsch�rfe an, was seinen Inhalt anbelangt. Somit kann ganz Verschiedenes darunter verstanden werden, was lediglich darin geeint scheint, gegen die Moderne zu sein. Wenn Paul Feyerabend als Wesen der P. angibt "anything goes", so beschreibt er damit, dass es zumindest f�r einen Teil der Postmodernen (ja eigentlich ist dies das Wesen der P.) der Wert der Kultur darin liegt, unterschiedliche Meinungen als gleichberechtigt zu betrachten, die jederzeit durch andere ersetzbar sein k�nnen.
(c.) In der Philosophie kam es zur Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Moderne (z. B. >Habermas) und der P. (z. B. Lyotard). Die Vertreter der Moderne sehen sich als die Erben der Aufkl�rung und wollen die Errungenschaften der Franz�sischen Revolution noch weiter ausbauen. Auch wenn ihnen durchaus bewusst ist, dass die wirtschaftliche, industrielle und politische Entwicklung besorgniserregend sein k�nnen, so gibt es f�r sie dennoch keine Alternative zu einer Fortentwicklung der Ideen der Aufkl�rung. F�r die Vertreter der P. ist dies illusorisch, da wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend wissenschaftliche und moralische Probleme br�chten. Der Vorwurf der Vertreter der Moderne an die der P. lautet, diese vertr�ten Konservatives und Reaktion�res, w�hrend die Vertreter der P. den Modernen vorwerfen, sie praktizierten einen "Terror der Vernunft" (Lyotard).
(d.) Was aber setzt die P. der Moderne mit deren Optimismus, Subjekt- und Zielorientiertheit entgegen, wenn sie sich selbst als "Dekonstruktion" der Pr�missen und Ziele der Moderne versteht und diese aufl�sen m�chte?
- An die Stelle der Subjektorientiertheit tritt bei ihr eine wechselnde Neuorientierung an sich ver�ndernden Zusammenh�ngen.
- Es wird nicht auf lange Sicht geplant, sondern kurzfristig. Kurzzeiteins�tze werden beliebter als lange Bindungen.
- Das Leben wird nicht mehr als Einheit verstanden, sondern als von Zuf�lligkeiten, Vielfalt und Zusammenhangslosigkeit bestimmt. Eine Folge k�nnte sein, dass an Stelle lebenslanger ehelicher Treue bei vielen die Lebensabschnittspartnerschaft mit oder ohne Eheschlie�ung (en) getreten ist und damit anstelle der herk�mmlichen Familien Patchworkfamilien.
- Widersprochen wird der optimistischen Sicht, die seit der Aufkl�rung besteht und auch die Moderne beherrscht, die die Vielf�ltigkeiten der Welt als Einheit meint begreifen zu k�nnen. Postmodernem Denken erscheint dies unm�glich, weshalb es f�r sie viele Zug�nge zur Wirklichkeit gibt, die f�r sie, von ihrem Denken aus stimmig, inkommensurabel sind, aber als gleichberechtigt angesehen werden, weshalb auch schon von postmoderner "Beliebigkeit" gesprochen wurde.
Auf die Verwendung der Begriffe postmodern bzw. P. in Literatur (Frederico de Quiz) und Geschichte (Arnold Toynbee) wurde bereits hingewiesen (vgl. 2.a), ebenso darauf, dass die Verwendung P. in Gesellschaft, Kultur usw. auf J. F. Lyontard zur�ckgeht (vgl. 1.) und auf die Auseinandersetzung in der Philosophie zwischen Vertretern der Moderne (z. B. J. Habermas) und der P. (z. B. J. F. Lyotard) (vgl. 2.c). So bleibt noch zu erg�nzen, dass der Begriff "postmoderne Gesellschaft" 1968 in die Soziologie eingef�hrt wurde (durch Amitai Etzioni, The active Society). Und auch in die Theologie ist postmodernes Denken �bernommen worden, nicht allein in den USA, wenn auch dort allem Anschein nach zuerst (s. 4).
Ronald Thiemann (1985) erhebt gegen�ber der traditionellen Offenbarungstheologie den Vorwurf, sie habe sich an philosophischen Wahrheitspostulaten orientiert. Obwohl die Lehre von der zuvorkommenden Gnade aus traditioneller Offenbarungstheologie stammt, will er daran dennoch festhalten.
Mark Taylor (1984) orientiert sich an Friedrich >Nietzsches (1844-1900) These vom Tode Gottes und vertritt eine "eliminierende" Theologie. Deshalb m�chte er "Wahrheit", "Sinn", "Gut und B�se" eliminieren. Wird Gott jedoch als nicht existent betrachtet, so gibt es kein Orientierungszentrum, keine objektive Wahrheit, keine objektive Unterscheidung zwischen Gut und B�se. Dann trifft zu, was Fjodor Dostojewski (1821-1881) schrieb: "Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt." In Deutschland haben Dorothee S�lle (1929-2003) und andere eine Theologie nach dem Tode Gottes vertreten (Gott-ist-tot-Theologie).
Festzuhalten ist, dass P. nicht allein auf akademische Theologie eingewirkt hat, sondern l�ngst bis zur Gemeindebene durchgedrungen ist (auch D. S�lle hat mehr auf die Gemeinden gewirkt als auf die theologischen Fakult�ten). Vor Erscheinungen wie wechselnde Partnerschaften und wilde Ehen wurde in vielen Gemeinden l�ngst kapituliert. Sie werden als "M�glichkeiten der Lebensgestaltung" hingenommen und akzeptiert; nur selten noch wird ihnen mit biblischer Gemeindezucht begegnet (Gemeinde). Kennzeichen und Auswirkung der P. ist mangelnde Bindungsf�higkeit und �willigkeit. Dies herrschte freilich auch schon in der Moderne, was verdeutlicht, dass die P. die Moderne nicht �berwunden hat, sondern diese eher noch verst�rkt. Anstelle von Veranstaltungen, die Kontinuit�t erfordern (z. B. Bibel- und Jungscharstunden) treten mehr und mehr kurze Events und Happenings, zu welchen u. U. auch lange Anfahrtswege in Kauf genommen werden. Dabei wird der Erlebniswert entscheidend (>Spa�gesellschaft). Kontinuit�t wird durch Spontanit�t ersetzt. Die Ziele werden minimalisiert; man ist mit immer weniger zufrieden. Meist ist wohl nicht bewusst, dass es sich dabei um Erscheinungen "postmoderner" Beliebigkeit handelt. Allem Anschein nach sind Vorstellungen der P. mehr auf pragmatische Weise und evtl. sogar unbewusst eingedrungen, indem vor allem der augenblickliche Erfolg z�hlte. Jedenfalls blieben Theologie, Kirche (n) und Gemeinden nicht von der P. verschont.
Die P. birgt durchaus Gefahren in sich. Sie erscheint ideologieanf�llig und hat damit den Hang zur Verf�hrung. Denn weil die Gesamtorientierung f�r den Einzelnen fehlt, muss er diese an �bergeordnete Instanzen abgeben. Damit besteht die latente Gefahr, dass �bergeordnete Instanzen, z. B. der Staat, Lobbyvertretungen, einflussreiche Verb�nde zwangsl�ufig ein Mehr an Einfluss gewinnen, was zwar gegen die allgemeine Absicht ist, aber unvermeidbar erscheint. Die Frage nach G�ltigem l�sst die P. mit ihrer Anschauung postmoderner "Beliebigkeit" unbeantwortet.
Nichtzutreffend d�rfte die Ansicht sein, P. bedeute die R�ckkehr zu Konservatismus und Vergangenheit. Dies wird als Vorwurf von Vertretern der Moderne (z.B. Habermas) erhoben, die sich bewusst von Vergangenem l�sen und Ideen der Aufkl�rung weiterf�hren wollen. Genau so wenig d�rfte die �berlegung zutreffen, P. sei totale Erneuerung durch "futurische Revolte". Auch stellt die P. keine wirkliche �berwindung der Moderne dar, sondern verst�rkt diese eher durch weitere Pluralisierung. Was sie an dieser kritisiert, �berwindet sie nicht wirklich. Jedoch ist sie im Recht, wenn sie den Optimismus und die Individualisierung der Moderne anprangert, obwohl sie den Subjektivismus eher noch verst�rkt hat. Die Bibel widerspricht einem optimistischen Menschenbild (>Mensch).
Theologisch d�rfte am ehesten am Begriff der "Dekonstruktion" anzusetzen sein, der vor allem durch die zeitgem��e franz�sische Philosophie aufkam. Denn die "Konstruktionen", die abgebaut werden sollen, erweisen sich als "Konstruktionen" Gottes, sind mithin in der Sch�pfungs-, Erhaltungs- bzw. Notordnung begr�ndet. Damit greift die P. von Gott Gesetztes und Verordnetes an. P. ist somit kein positiv zu vertretendes Ph�nomen, weder f�r den gesunden Menschenverstand noch f�r den christlichen Glauben, die sich ja nicht zwangsl�ufig widersprechen m�ssen, sondern genau betrachtet kommensurabel sind.
S. auch: Pluralismus; >Relativismus; Toleranz; >Offenbarung; >Ethik.
Lit.: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion (Textsammlung), 1990; M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufkl�rung, 1947; J. F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1993; ders., Der Widerstreit, 1989; S. Meier, Art. Postmoderne, in: Historisches W�rterbuch der Philosophie (HWP), 1971 ff., Bd. 7, 1141-1145; W. van Reijen, Art. Postmoderne, in: Evangelisches Kirchenlexikon (EKL), Bd. 3, 3. Aufl. 1992, 1276-1282
Walter Rominger
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