Pluralismus
1. Begriff:
Pluralismus (P.) (von latein. pluralitas, Vielheit) ist die (philosophische) Anschauung, die die Wirklichkeit (der Welt) nicht als Einheit, sondern als eine vom Zufall bestimmte Vielheit verschiedener Anspr�che und Prinzipien versteht, wobei diese Teile insgesamt nicht das Ganze bilden; daraus folgt eine Relativierung aller Anspr�che, Prinzipien und Werte (>Relativismus). P. ist die Gegenbewegung zum vom Hegel`schen Idealismus beeinflu�ten >Monismus. Er hat seinen Ursprung in der deutschen und angels�chsischen Philosophie und Staatsrechtslehre und wurde im Fr�hliberalismus und Liberalismus vorgepr�gt (Wende vom 19. zum 20. Jhd. in Mittel- und Westeuropa).
2. P. als gesellschaftlich-politisches und theologisch-kirchliches Ph�nomen und Problem:
Voraussetzungen und Konzepte des P. treten erst in der modernen Massengesellschaft auf, die sich als eine flexible, mobile, offene versteht. P. l�sst sich in allen Lebensbereichen feststellen: kultureller P., politischer P., religi�ser P., sozialer P., Theorien- und Wertepluralismus.
- (a) Gesellschaftlich-politischer P.: Pluralistisch ist eine Gesellschaft dann zu bezeichnen, wenn sie sich in eine gro�e Menge konkurrierender, mit dem Anspruch der Gleichberechtigung auftretender Meinungen, Interessen, Gruppierungen gliedert. Um einen pluralistischen Staat handelt es sich, wenn die vielf�ltigen gesellschaftlichen Gruppen durch ihre Ideen und Interessen auf den Staatsapparat Einfluss nehmen k�nnen und / oder wenn diese Ideen und Interessen vom Staatsapparat stark ber�cksichtigt werden. Dies setzt eine demokratische Staatsform voraus. Zwar ist der P., der in Deutschland als gesellschaftlich-politischer erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen Ende der Monarchie auftreten konnte, aufgrund des Niedergangs der Weimarer Republik und des Zerfalls der Demokratie kritisiert worden. Er wird aber allgemein dennoch als positive Erscheinung des 20. Jhd.s angesehen. Gegen den gesellschaftlich-politischen P. ist einzuwenden, dass aufgrund der stark divergierenden Interessen das Einigende nur noch schwer festgehalten werden kann. Partikularinteressen �berlagern Gesamtinteressen. Das Zusammenleben erweist sich ohne Einigung auf bestimmte Grundwerte zun�chst als schwierig und d�rfte sich auf Dauer als unm�glich erweisen. So ist zumindest dem grenzenlosen gesellschaftlich-politischen Pluralismus die Neigung zum Anarchismus inh�rent.
- (b) Theologisch-kirchlicher P.: Als theologisch-kirchliches Ph�nomen und Problem wird der P. erst in neueren Fachpublikationen erkannt und behauptet (vgl. z. B. die kritische Auseinandersetzung damit von Landesbischof Hermann Dietzfelbinger in seinem Bericht vor der EKD-Synode 1971 in Berlin-Spandau), wiewohl er der Sache nach bereits des l�ngeren virulent war, aber als solcher anscheinend kaum erkannt und benannt wurde. Da Theologie und Kirche in der modernen pluralistischen Gesellschaft existieren, nehmen sie an deren allgemeiner Entwicklung teil und stehen in der Gefahr, deren Denk- und Verhaltensmuster selbst zu �bernehmen, so dass sich ein binnenkirchlicher P. entwickeln kann. Zudem ist Kirche in der pluralistischen Gesellschaft lediglich ein Teilbereich und wird in ihrem Anspruch auf das ganze Leben nicht akzeptiert. Zu diesem von au�en kommenden gesellschaftlichen Druck tritt die Bejahung des religi�sen, theologischen und teilweise auch kirchlichen P. durch die Gro�kirchen (auch die r�misch-katholische Kirche ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf diese Richtung eingeschwenkt). Dies wird teilweise dadurch gerechtfertigt, dass im Anschluss an �berlegungen von Walter Bauer und Ernst K�semann behauptet wird, der Kanon des Neuen Testaments bilde nicht die Begr�ndung f�r die Einheit der Kirche, sondern f�r die Vielzahl der Konfessionen, eine Sicht, die stark im �kumenischen Dialog vertreten wird. So wiesen auf der Konferenz f�r Glaube und Kirchenverfassung 1963 in Montreal einige Referenten darauf hin, das Neue Testament liefere die Grundlage f�r eine Vielzahl von Konfessionen. In dieser Weise verfuhr auch der Theologische Ausschuss der Arnoldshainer Konferenz (P. in der Kirche, 1977), der allerdings noch einem grenzenlosen Relativismus und der Infragestellung der alleinigen Heilsmittlerschaft Christi widersprach. Trotz aller versuchten Pluralismusbegrenzung ist dem P. der >Relativismus inh�rent. Eine Vielzahl sich widersprechender Theologien, die keine gemeinsame Mitte der Schrift mehr festhalten k�nnen, sind Beleg daf�r. Der Vorwurf des P. kann mitnichten gegen die Hl. Schrift erhoben werden, denn deren zwar �u�erlich vielstimmiges Zeugnis ist inhaltlich einheitlich. Die Bejahung des P. in Theologie und Kirche bedeutet, sich damit bewusst oder unbewusst fremden Weltanschauungen auszuliefern (Ideologie). P. in Theologie und Kirche ist der Versuch, jegliche Meinung � m�glichst gleichberechtigt, so die Idealvorstellung � auch wenn sie gegen Hl. Schrift und Bekenntnis gerichtet ist, gelten zu lassen. Dadurch wird die Lehrgrundlage der Kirche prinzipiell infrage gestellt, wenn nicht aufgel�st. Eine Bejahung eines P. der Religionen (J. Hill, P. Knitter, R. Panikkar), die ihre Begr�ndung in der Erfahrung einer pluralen Welt erhalten mag, bedeutet die Aufl�sung des bekannten Diktums Cyprians aus dem 3. Jhd.: "Au�erhalb der Kirche gibt es kein Heil", welches im Zusammenhang mit der Taufe auf den dreieinigen Gott und einer exklusiven Christologie gesehen werden mu�, da sich dies mit einem P. der Religionen nicht mehr vereinbaren l��t. Kritik am theologischen und kirchlichen Pluralismus erfolgte und erfolgt vor allem von theologisch konservativer und evangelikaler Seite. Der theologische und kirchliche P. vermag die vier reformatorischen "allein" nicht festzuhalten (allein Christus, allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Schrift). Eine Bejahung theologischen und kirchlichen P. bedeutet die Preisgabe biblisch-reformatorischer Position. Weil sich der theologische und kirchliche P. auch auf das Gottesverst�ndnis erstreckt und hier ganz Unterschiedliches gelten l�sst, f�rdert und bedingt er letztlich den Polytheismus.
- (c) Unterscheidung von P. und Pluralit�t: Begrifflich und sachlich ist diese Unterscheidung zwar m�glich. Dann steht einem negativ zu beurteilenden P. eine positiv zu wertende Pluralit�t (lat. Vielfalt) entgegen, "die � theologisch gesehen � eine grunds�tzliche Einf�rmigkeit ausschlie�t zugunsten des Zusammenhangs unterschiedlicher Gaben und Kr�fte zur Erbauung der christlichen Gemeinde (vgl. R�m. 12; 1. Kor. 12-14; Eph. 4)" (Fachw�rterbuch Theologie, Stichwort: Pluralit�t, Wuppertal 1987, S. 134). Aber faktisch ist diese Unterscheidung wenig geeignet, da sich die Grenze zwischen P. und Pluralit�t nur schwer markieren l�sst, so dass damit das theologische Problem nicht gel�st wird. Aufgrund dieser Unzul�nglichkeit sollte auf diese Unterscheidung verzichtet und der Begriff Pluralit�t nicht positiv aufgenommen werden, allein schon um unn�tige Verwirrung zu vermeiden.
3. Beurteilung:
Gesellschaftlich-politischer P. ist zwar das zwangsl�ufige Erscheinungsbild einer sich als offen verstehenden Gesellschaft. Er kann jedoch bei aller Vorgabe gro�er, ja grenzenloser Freiheit selbst totalit�r werden, zumindest zun�chst gegen�ber solchen, die ihn (begr�ndet) infrage stellen. Der ihm inh�rente Hang zur Anarchie birgt die Gefahr des Totalitarismus und der Tyrannei in sich. (Die Weimarer Republik wurde durch die NS-Diktatur abgel�st.) �bertriebener P. ist unmenschlich und gegen Gesellschaft und Staat gerichtet. Eine gottgegebene Ordnung erkennt er nicht als solche an. Wollen Gesellschaft und Staat bestehen, so m�ssen einem ausufernden P. Grenzen gezogen werden, da er ansonsten deren Atomisierung zun�chst betreibt und dann auch bewirkt. Muss in Gesellschaft und Staat eine gewisse Offenheit herrschen und wird damit in bezug auf Weltanschauung usw. ein gewisses Ma� an Freiheit bestehen m�ssen, so ist in Theologie und Kirche eine zum Prinzip erhobene Vielfalt der Anschauungen, die � so die Idealvorstellung � gleichberechtigt nebeneinander stehen, nicht m�glich, da dadurch die Grundlagen Hl. Schrift und Bekenntnis aufgel�st werden. P. in Theologie und Kirche versucht die Wahrheitsfrage auszuklammern, verh�lt sich zu dieser damit indifferent und stellt sich ihr entgegen. P. steht gegen die vier reformatorischen allein, f�rdert den Polytheismus, widerspricht dem 1. Gebot ("Du sollst keine anderen G�tter neben mir haben") und hat deshalb in Theologie und Kirche keinen Raum.
S. auch: Apologetik; Toleranz; >Wahrheit.
Lit.: Art. "Pluralismus" in: EKL, Bd. 3. 3. Aufl. (Neufassung), 1992, Sp. 1232-1242, v.: W.-D. Narr, J.-M. Charpentier, G. F. Moede; ELThG, Bd. 3, 1994, S. 1579f., v. J. Eber; ESL, 7. Aufl. 1980, Sp. 1004-1006, v. R. Eisfeld; EStL, 2. Aufl. 1975, Sp. 1848-1855, v. R. Herzog; Evangelisches Gemeindelexikon, 1986 (1. Aufl. 1978), S. 411, v. H. L�cke; RGG, Bd. 5, 3. Aufl. 1961, Sp. 421f., v. C. Graf v. Krockow; Arnoldshainer Konferenz (Hg.), Pluralismus in der Kirche. Chancen und Grenzen, 1971; P. L. Berger, Der Zwang zur H�resie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, 1992; P. Beyerhaus/J. Heubach (Hg.), Zwischen Anarchie und Tyrannei, 1979; J. Hick/P. Knitter (Edd.), The Myth of Christian Uniquiness. Towards a Pluralistic Theology of Religion, 1987; W. Rominger, Jedem das Seine � auch im Glauben? Eine bislang fast ausgebliebene Anfrage an den praktischen Pluralismus: Pluralismus bringt Polytheismus, Sternbrief 3. 2001 (Hg. Cornelius-Vereinigung), 7-13; R. Slenczka, Christlicher Glaube im pluralistischen Zeitalter des 21. Jahrhunderts, in: ders., Neues und Altes, Bd. 2, 2000, 149-163; ders., Christliche Theologie der Religionen, ebd., 164-182; ders., "Magnus Consens". Die Einheit der Kirche in der Wahrheit und der gesellschaftliche Pluralismus, ebd., Bd. 3, 13-57.
Walter Rominger
Index
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de