1. Prozesstheologie greift auf Einsichten des englischen Mathematikers, Naturwissenschaftlers und Philosophen Alfred North Whitehead (1861 – 1947) zurück und macht sie für die Religionsphilosophie und Theologie fruchtbar.
Diese von J. B. Cobb begründete, seit etwa 1970 einflussreiche theologische Richtung dürfte über die Vereinigten Staaten von Amerika hinaus diejenige sein, die in der zweiten Hälfte des 20. Jhd.s den größten Einfluss gewann. Diese angelsächsische Hauptrichtung der Theologie will im Anschluss an die Prozessphilosophie A. N. Whiteheads eine Theologie entwickeln, die mit der Wirklichkeitserfahrung des vielfältigen gegenwärtigen Pluralismus verträglich erscheint.
1. Whiteheads Theorie ist stark interdisziplinär und hält daher Verbindung zu Naturwissenschaften, klassischen Philosophien und Religion(en) und will auch dem gesunden Menschenverstand gerecht werden.
2. Grundlegend hat Whitehead seine Neukonzeption in seinem Hauptwerk "Prozess und Realität" (1929) beschrieben. Dieses Werk gilt als eines der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jhd.s. Whitehead versucht darin, die Grundlagen des abendländischen Denkens neu zu konzipieren, indem er zum einen die Ereignisse der modernen Naturwissenschaften als auch Grundelemente der biblischen Religion ernst zu nehmen versucht. Die daraus sich ergebende Prozessphilosophie bricht mit der aristotelisch-neuzeitlichen Anschauung (>Aristotelismus). Dieser zufolge wird Seiendes als in der Zeit Beharrendes gedacht. Whitehead entfaltet den Prozessgedanken so weit, dass es nichts mehr gibt, das den Prozess trägt; dieser selbst ist die Wirklichkeit. Damit wird die traditionelle aristotelische Substanzmetaphysik durch eine Ereignismetaphysik ersetzt. Whiteheads Kosmologie gehört zu den relativistischen Theorien des 20. Jahrhunderts, die als "nachneuzeitlich" oder "postmodern" bezeichnet werden (Postmodernismus). Laut Whitehead unterliegt Gott nicht dem Prozess von Werden und Vergehen. Im Gegensatz zu aktuellen Einzelwesen (actual entity) ist Gott ein "eternal object", der die Ur-Ordnung aller naturgegebenen Ordnung verkörpert, welche die Welt in einer hierarchischen Struktur mit physikalischer, biologischer und humanzivilisatorischer Ebene erscheinen lässt. Für Whitehead sind die traditionellen Attribute Gottes, die dessen Unwandelbarkeit, Ewigkeit usw. besagen, Bezeichnungen, die nicht die ganze Wirklichkeit Gottes erfassen und ihm mit diesen Attributen auch nicht gerecht wird.
3. Auf die Konsequenz die mit diesem epochalen Neuansatz für das Gottes- und auch für das Menschenbild verbunden sind, haben die beiden Religionsphilosophen Charles Hartshorne und Henry Nelson Wieman hingewiesen. Vornehmlich die Divinity School der Universität Chicago brachte das Denken Whiteheads in die Theologie. Aus dieser Divinity School gingen als wichtige Prozesstheologen Schubert M. Ogden, Bernard Loomer, John B. Cobb Jr. hervor. Unter den deutschen Theologen hat sich besonders Michael Welker mit der Prozesstheologie befasst (vgl. M. Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt. Theologische Kosmologie im Dialog mit dem amerikanischen Prozessdenken nach Whitehead, 1981). Die Gotteskonzeption der genannten amerikanischen Prozesstheologen fasst M. Welker folgendermassen zusammen: "Gott: Das Selbst der Welt" (Ogden); "Gott: Grundfaktor aller Erfahrung" (Loomer); "Gott: Grund unseres Lebens in Gemeinde und universaler Gemeinschaft" (Cobb). Die Prozesstheologie ist inzwischen in so gut wie allen christlichen Denominationen diskutiert worden. Ebenso hat sie auf so gut wie alle Themen der Theologie eingewirkt. In der Prozesstheologie wurden der naturwissenschaftliche und die weiteren interdisziplinären Aspekte im Denken Whiteheads nur ungenügend berücksichtigt, so dass Whiteheads Denken in dieser theologischen Schule zumeist verflacht erscheint. Um dem Denken Whitehaeds gerecht zu werden, müsste die Theologie sich intensiv mit modernen Naturwissenschaften beschäftigen, in einen fruchtbaren Dialog mit diesen treten und darüber hinaus ganz allgemein interdisziplinär arbeiten. Dieser Wissenschaftsdialog ist im Protestantismus spätestens seit K. Barth und R. Bultmann abgerissen. K. Heim und A. Köberle blieben in der neueren Theologiegeschichte seltene Ausnahmen, die den interdisziplinären Austausch pflegten. Deren Schüler, z. B. H. W. Beck und die Studiengemeinschaft "Wort und Wissen", versuchen, das Erbe K. Heims aufzugreifen. Im main stream zumindest der protestantischen Theologie zeichnet sich noch keine Kursänderung ab: sie verharrt nach wir vor auf ihren Positionen, versucht nicht, das interdisziplinäre Gespräch zu führen und ist u.a. deshalb in ethischen Fragen so hilflos und sprachlos. Nicht allein am unwandelbar absoluten Gott wurde durch die Prozesstheologie Kritik geübt, sondern teilweise zielte sie auch auf die Überwindung der Priorität der maskulinen Sprache der christlichen Theologie (J. B. Cobb, Prozesstheologie R. Griffin), was für den theologischen Feminismus Impulse bot.
4. Die Prozesstheologie enthält auch einen Widerspruch gegen die herkömmliche christliche Lehre der creatio ex nihilo (Erschaffung aus dem Nichts). Die von der Prozesstheologie fruchtbar gemachte Gottesvorstellung A. N. Whiteheads wirkt nicht durch machtvolles schöpferisches Handeln, sondern durch Überredung, was diese Vorstellung attraktiv gemacht hat. Zwischen dieser Vorstellung und darin, dass Gott in der Bibel als gütig und langmütig beschrieben werden kann, besteht nur scheinbare Entsprechung. Gott geht laut biblischer Lehre seinen Geschöpfen zwar in Langmut nach, aber die Geschöpfe verdanken sich einer creatio ex nihilo. Gottes Langmut entspringt nicht, wie dies die Prozesstheologie nahelegt, aus Ohnmacht, sondern aus Liebe. Die Prozesstheologie hat darauf hingewiesen, der herkömmlichen christlichen Auffassung bereite durch die Lehre von der creatio ex nihilo die Existenz des Bösen Schwierigkeiten. Dessen Existenz hat immer wieder Zweifel aufkommen lassen, dass Gott, der allmächtige Schöpfer, zugleich der von Jesus verkündete Gott der Liebe sein könne. Die Existenz des Bösen scheint die Allmacht Gottes infrage zu stellen. Die Prozesstheologie scheint darauf eine auf den ersten Blick überzeugende Antwort zu bieten, indem deren Anhänger die Macht Gottes als beschränkt auffassen. Doch damit hinge das Geschöpf nicht allein von Gott ab, sondern genauso von anderen Mächten und könnte das Vertrauen zur Überwindung des Übels in der Welt nicht allein auf Gott gesetzt werden. Demgegenüber ist biblischer Überlieferung zufolge auch das Böse auf Gott zurückzuführen (Jes 45,7 f.; Jer 45,4 f.; Am 3, 6) und ist keine gegenüber Gott selbständige Macht des Bösen anzuerkennen. In dieser Hinsicht kennt die Bibel keinen Dualismus. Auch lässt sich die in der Prozesstheologie aufgenommene Verhältnisbestimmung Whiteheads von Gott und Welt biblisch nicht dadurch legitimieren, indem darauf hingewiesen wird, die Formel der creatio ex nihilo sei erst nachbiblisch, denn der Sache nach ist sie biblisch. Zudem gehört die gegen die creatio ex nihilo angeführte Formel einer creatio continuata (fortgesetzte Erschaffung), die mit Whiteheads Prozessdenken in Einklang gesehen wird, einer noch viel späteren Zeit an, dem abendländischen Mittelalter, und setzt vor allem die creatio ex nihilo bereits voraus, indem die Erhaltungstätigkeit Gottes als Fortsetzung der creatio ex nihilo charakterisiert wird. Creatio ex nihilo und creatio continuata sind keine Gegensätze. Alttestamentliche Schöpfungsaussagen (Ps 104, 14-30; 139,13; 147,8f.) besagen keine Begrenzung der Schöpfermacht Gottes, sondern Gottes unumschränkt freies Schöpfungshandeln, was mit der Formel der creatio ex nihilo ausgedrückt wird.
5. Die Prozesstheologie vermag zwar den Blick auf gegenwärtig in der Theologie zu wenig berücksichtigte Aspekte zu lenken, bildet aber als gesamte keine Alternative zur traditionellen Theologie. Sie verwertet die Theorie Whiteheads nur selektiv und berücksichtigt die naturwissenschaftlichen und interdisziplinären Aspekte Whiteheads kaum, so dass auch sie, obwohl sie von ihrem Ansatz her hier mehr leisten könnte, interdisziplinär wenig austrägt und damit ein fruchtbares Gespräch mit anderen Wissenschaften bislang im großen und ganzen ausgeblieben ist. Die Prozesstheologie ist zudem vor erheblichem Missbrauch nicht geschützt (Feminismus). Sie selbst müsste reformiert werden in dem Sinne, dass ihre Schwächen und Fehler beseitigt und bislang unbeachtete Aspekte der Theorie Whiteheads aufgenommen werden. Dann könnte sie auch positiv die traditionelle Theologie befruchten. Als fruchtbar könnte sich das Gespräch zwischen einer reformierten Prozesstheologie und einer heilsgeschichtlichen Theologie, welche letztmalig überzeugend von Oscar Cullmann (1902-1999) dargestellt wurde (Christus und die Zeit, 1946; Heil als Geschichte, 1965) erweisen, da hier eine bislang nicht wahrgenommene Affinität besteht (Heilsgeschichte).
Lit.: EKL, 3. Aufl. (Neufassung), Sp. 1360 – 1366 (Art. Prozessphilosophie und Art. Prozesstheologie); ELThG, Bd. 3, S. 1625 f.; A. N. Whitehead, Prozess und Realität, 1929; J. B. Cobb, P. R. Griffin, Prozess-Theologie. Eine einführende Darstellung (Übers. M. Mühlenberg) 1979; M. Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt. Theologische Kosmologie im Dialog mit dem amerikanischen Prozessdenken nach Whitehead, 1981.
Walter Rominger
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