Reformatorisches Kirchenverst�ndnis

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Das reformatorische Kirchenverst�ndnis ist zu werten als direkte Antwort auf das >Katholische Kirchenverst�ndnis (s. dort). In der Darstellung der reformatorischen Ekklesiologie nehme ich den Ausgangspunkt bei der Ekklesiologie Martin Luthers. Die Ekklesiologie anderer Reformatoren, insbesondere Johannes Calvins, wird nur an den Stellen ber�cksichtigt, wo sie in gr��erem Masse von Luthers Ansatz abweicht. Die Werke Luthers werden zitiert nach der Weimarer Ausgabe (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff.; abgek�rzt: WA) und der Ausgabe von Johann Georg Walch (Dr. Martin Luthers S�mtliche Schriften, hg. v. J. G. Walch, 1740-53, Neuausgabe Gross-Oesingen 1987; abgek�rzt: Walch). Die Calvin-Zitate stammen aus seiner "Institutio christianae religionis" in der letzten Fassung von 1559 (�bersetzt und bearbeitet v. O. Weber, 1988; abgek�rzt: Institutio). Zitate weiterer Reformatoren, insbesondere Philipp Melanchthons, finden sich im "Corpus Reformatorum" (abgek�rzt: CR), 1834ff.

1. Die Kirche ist ein christliches heiliges Volk. Sie wird konstituiert durch das Wort Gottes in seiner unterschiedlichen Gestalt.

Die klassische reformatorische Definition der Kirche findet sich - von Philipp Melanchthon formuliert � im Augsburger Bekenntnis, Artikel 7: "Item docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta" ("Es wird auch gelehret, dass alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden"). Hier finden sich alle wesentlichen Elemente der Kirche nach reformatorischem Verst�ndnis: Sie ist heilig. Sie ist christlich. Sie wird alle Zeit bleiben. Sie besteht aus Heiligen � und das heisst: Gl�ubigen im neutestamentlichen Sinn -, die sich versammeln. Diesen wird das Evangelium rein gepredigt, und die Sakramente werden ihnen evangeliumsgem�� gereicht.

Das Evangelium und die Sakramente sind unterschiedliche Ausgestaltungen des g�ttlichen Wortes. Man kann deshalb zusammengefasst auch so formulieren: Die Kirche � Luther bevorzugt den Begriff "Gemeinde" � ist eine Versammlung von Menschen, die konstituiert wird durch Gottes Wort. Oder noch k�rzer: "Ubi est verbum, ibi est ecclesia" ("Wo das Wort ist, da ist die Gemeinde") (WA 39/2, 176). Begriffe wie "congregatio" ("Versammlung"), "coetus" ("Zusammenkunft") und �hnliches beschreiben die horizontale Dimension: die Zusammenkunft von Menschen, die das Wort aufnehmen m�chten, als Gottes Volk. Das Wort selber stellt die vertikale Dimension dar: Gott spricht sein Wort auf unterschiedliche Weise in die menschliche Versammlung hinein. Beide Dimensionen geh�ren untrennbar zusammen. So f�hrt Martin Luther 1539 in seiner Schrift "Von den Conciliis und Kirchen" aus: "Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein. Wiederum, Gottes Volk kann nicht ohne Gottes Wort sein. Wer wollte es sonst predigen oder predigen h�ren, wo kein Volk Gottes da w�re? Oder was k�nnte oder wollte Gottes Volk glauben, wo Gottes Wort nicht da w�re?" (Walch 16, 2276).

Betrachten wir zun�chst die horizontale Dimension. Nach Luther ist die Gemeinde das "heilige christliche Volk": "Aber Ecclesia soll hei�en das heilige christliche Volk, nicht allein der Apostel Zeit, die nun l�ngst todt sind, sondern bis an der Welt Ende." "Christlich" heisst: Sie besteht aus Christen. Das Christsein wird definiert durch den rechten Glauben: "Denn wer nicht recht an Christum glaubt, der ist nicht christlich oder ein Christ." "Heilig" heisst: Ihre Glieder sind vom Heiligen Geist erf�llt und f�r Gott ausgesondert: "Wer den Heiligen Geist nicht hat wider die S�nde, der ist nicht heilig ... Denn christliche Heiligkeit ... ist die, wenn der Heilige Geist den Leuten Glauben gibt an Christum und sie dadurch heiliget." Diese Christlichkeit und Heiligkeit kommt nicht zustande durch �u�ere Werke, Gebr�uche oder Gew�nder wie bei den "Papisten", sondern allein durch die Wirkung von Gottes Wort im Herzen des Menschen: "Denn Gottes Wort ist heilig und heiliget alles, was es r�hret, ja es ist Gottes Heiligkeit selbst" (Walch 16, 2270ff.).

Wie kommt nun Gottes Wort � als die vertikale Dimension � zum Menschen, zur Gemeinde? Erstens im fleischgewordenen Wort: Jesus Christus. Zweitens im schriftgewordenen Wort: der Bibel. Drittens im zeichenhaften Wort: den Sakramenten. Luther sagt: "Wo das Wort ist, da ist auch die Kirche, da ist der Geist, da ist Christus und alles" (Walch 1, 709). "Das ist allein die Kirche, welche das reine Wort und die reinen Sakramente hat" (Walch 6, 579). Auch Calvin definiert: "Denn �berall, wo wir wahrnehmen, dass Gottes Wort lauter gepredigt und geh�rt wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden, l�sst sich auf keinerlei Weise daran zweifeln, dass wir eine Kirche Gottes vor uns haben" (Institutio IV,1,9).

2. Als Gemeinschaft der Glaubenden ist die Kirche unsichtbar und unter ihren Fehlern verborgen. Als Gemeinschaft des Wortes, des Bekenntnisses und der �u�eren Zeichen ist sie sichtbar, allerdings als corpus permixtum (vermischter Leib) aus Gl�ubigen und Heuchlern.

Grundlegend f�r die Auseinandersetzung der Reformatoren mit dem Papsttum ist die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche (ecclesia visibilis et invisibilis). W�hrend die r�misch-katholische Ekklesiologie die unsichtbare Kirche, den mystischen Leib Christi, als "Ursakrament" an die sichtbare Kirche als Mittlerin der Heilsf�lle bindet und den Papst als Stellvertreter Christi auf Erden betrachtet, ist f�r die Reformatoren eine solche Identifizierung unm�glich. In seiner Schrift "Von dem Papsttum zu Rom" aus dem Jahre 1520 spricht Luther unter Ankn�pfung an Stellen wie Lk 17,20f. und Joh 18,36 von der Kirche als einer "Versammlung im Geist" und betont, "dass das Reich Gottes ... ist nit zu Rom, auch nit an Rom gebunden, weder hie noch da, sondern wo da inwendig der Glaub ist ... Also dass es erlogen und erstunken ist, und Christo als einem L�gener widerstrebt, wer do sagt, dass die Christenheit zu Rom oder an Rom gebunden sei, viel weniger, dass das H�upt und Gewalt da sei aus g�ttlicher Ordnung ... Die erste Christenheit, die allein ist die wahrhaftige Kirch, mag und kann kein H�upt auf Erden haben, und sie mag von niemand auf Erden, weder Bischof noch Bapst, regiert werden, sondern allein Christus im Himmel ist hie das H�upt und regieret allein ... Wie kann ein Mensch regieren, das er nit weiss noch erkennet? Wer aber kann wissen, welcher wahrhaftig gl�ubt oder nit?" (WA 6, 292ff.).

Die unsichtbare Kirche ist also die Gemeinschaft der Glaubenden, und sie ist deshalb unsichtbar, weil kein Mensch vom anderen wissen kann, ob er wirklich glaubt. Gott allein sieht das Herz an (vgl. 1. Sam 16,7). Und dennoch ist die Kirche auch sichtbar, denn in der sichtbaren wird die unsichtbare Kirche erkennbar, manifest, wobei letztere unter vielen Fehlern und Schw�chen - unter dem "Fleisch" � verborgen ist. Wirklich erkennbar ist sie deshalb nur dem Glauben. Die Kirche, wie Jesus Christus sie gewollt hat, will und kann nicht "ersehen", sie muss "erglaubt" sein. Deshalb sei es nochmals gesagt: Unter der sichtbaren liegt die unsichtbare Kirche verborgen. In der sichtbaren wird die unsichtbare Kirche manifest. Luther vergleicht die unsichtbare und sichtbare Kirche oder "Christenheit" mit Seele und Leib des Menschen: "Die erste, die nat�rlich, grundlich, wesentlich und wahrhaftig ist, wollen wir hei�en ein geistliche innerliche Christenheit. Die andere, die gemacht und �usserlich ist, wollen wir hei�en ein leibliche "�usserlich Christenheit. Nit dass wir sie voneinander scheiden wollen, sondern zugleich, als wenn ich von einem Menschen rede und ihn nach der Seelen ein geistlichen, nach dem Leib ein leiblichen Menschen nenne ..." (a.a.O.) �ber die Verborgenheit der Kirche Christi f�hrt er aus: "Es ist dies St�ck (Ich gl�ube eine heilige christliche Kirche) ebensowohl ein Artikel des Glaubens als die anderen. Darum kann sie keine Vernunft, wenn sie gleich alle Brillen aufsetzt, erkennen, der Teufel kann sie wohl zudecken mit �rgernissen und Rotten, dass du dich m�ssest dran �rgern; so kann Gott sie auch mit Gebrechen und allerlei Mangel verbergen, dass du musst dr�ber zum Narren werden und ein falsch Urteil �ber sie fassen" (WA DB 7,418).

W�hrend die wahre Kirche der Glaubenden verborgen und nur f�r den Glauben erkennbar ist, sind f�r die Wahrnehmung der sichtbaren Kirche gewisse Kennzeichen vorhanden. Luther hat in verschiedenen Schriften eine unterschiedliche Zahl solcher Kennzeichen der Kirche (notae ecclesiae) genannt. Sie lassen sich verstehen als unterschiedliche Ausgestaltungen des g�ttlichen Wortes. Die wichtigsten und immer wieder betonten Kennzeichen sind die Verk�ndigung des Evangeliums sowie die Sakramente Taufe und Abendmahl. Dabei besitzt die Verk�ndigung des in der Bibel bezeugten Wortes absolute Priorit�t: "Ein Zeichen ist n�tig, und wir habens auch, n�mlich die Taufe, das Brot, und am ersten von allem das Euangelion: diese drei sind der Christen Wahrzeichen, Marken und Kennzeichen (symbola, tesserae et caracteres) ... Wo du aber siehest, dass das Euangelion nicht sei (als wir sehen bei der Synagoge der Papisten und Thomisten), da sollst du nicht zweifeln, dass nicht Kirche sei, wenn sie gleich taufen und essen vom Altar ..., sondern sollst wissen, dass allda Babylon sei ... Denn das Euangelion ist vor dem Brote und der Taufe das einzige, das allergewisseste und das vornehmlichste Wahrzeichen der Kirche, dieweil sie durchs Euangelion allein wird empfangen, gebildet, gen�hrt, geboren, erzogen, geweidet, gekleidet, geziert, gest�rkt, gewappnet, erhalten. Kurz, das ganze Leben und Wesen der Kirche steht im Worte Gottes" (WA 7, 720ff.).

In seiner Schrift "Von den Conciliis und Kirchen" hat Luther die Dreizahl zu einer Siebenzahl ausgeweitet. Als notae ecclesiae nennt er jetzt: Wort Gottes, Taufe, Abendmahl, das Amt der Schl�ssel (Beichte und Absolution), kirchliche �mter, Gebet, Kreuz (Leidensnachfolge Christi). Als weiteres Erkennungszeichen klingt der neue Wandel der Christen, die Frucht der Heiligung an, doch relativiert er dieses als nicht eindeutiges Zeichen gegen�ber den anderen: "Wiewohl aber solch Zeichen nicht so gewiss angesehen mag werden, als die droben, weil auch etliche Heiden sich in solchen Werken ge�bt ..." (Walch 16, 2291). Allerdings sind auch die anderen Zeichen � ausser dem reinen Wort Gottes � durch die r�misch-katholische Kirche pervertiert oder durch weitere � abergl�ubische � Sakramentalien erg�nzt worden, welche die wahre Heilswirksamkeit der echten Zeichen verdeckten: "Da nun der Teufel sahe, dass Gott eine solche heilige Kirche bauete, feierte er nicht und bauete seine Capelle dabei, gr�sser denn Gottes Kirche ist ... Er sahe, dass Gott �u�erliche Dinge nahm, als Taufe, Wort, Sakrament, Schl�ssel usw., dadurch er seine Kirche heiligte ... nahm er auch �u�erliche Dinge vor sich, die sollten auch heiligen ... Also hat er durch die P�pste und Papisten lassen weihen oder heiligen Wasser, Salz, Kerzen, Kr�uter, Glocken, Bilder, Agnus Dei, Pallia, Altar, Caseln, Platten, Finger, H�nde; wer will`s alles erz�hlen?" (Walch 16, 2292).

Ein wichtiges Kennzeichen der wahren Kirche ist schlie�lich das richtige >Bekenntnis. Gemeint ist bei Luther zun�chst das Petrusbekenntnis ("Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes"; Mt 16,16), sp�ter � vor allem bei Melanchthon und Calvin � zunehmend die Bekenntnisse der Reformation. So f�hrt Luther aus: "Die Kirche ist der Haufe oder die Versammlung, die mit Petro bekennen, dass Jesus der Christ und des lebendigen Gottes Sohn sei" (Walch 13, 1179). "Die christliche Kirche ist weder an Ort, Zeit, Person noch anderes gebunden, sondern allein an das Bekenntnis von Christo" (Walch 13, 1176). "Es ist nur eine einige Kirche oder Gottes Volk auf Erden, die da einerlei Glauben, Taufe und Bekenntniss hat, und bei solchem eintr�chtiglich bleibt und h�lt" (Walch 12, 898). Philipp Melanchthon zitiert in der Apologie zur Confessio Augustana (Apol. CA 7,22) aus dem Jahre 1531 Nikolaus von Lyra: "Darum stehet die Kirche auf denjenigen, in welchen ist ein recht Erkenntnis Christi, ein rechte Confession und Bekenntnis des Glaubens und der Wahrheit."

Zur Zeit des �lteren Melanchthon und Calvins hatte sich zunehmend ein verfasstes evangelisches Kirchentum herausgebildet. Demzufolge gewann der Gedanke der sichtbaren Kirche und der sie konstituierenden Zeichen wachsende Bedeutung. Deutlich l�sst sich verfolgen, wie das Gewicht der sichtbaren Kirche gegen�ber der unsichtbaren in den verschiedenen Schriften Melanchthons � von der Apologie der Confessio Augustana (1531) bis zur letzten Fassung der "Loci communes" (1559) � st�ndig zunimmt. Ulrich K�hn hat diese Entwicklung bei Melanchthon anhand mehrerer Zitate aus den verschiedenen Schaffensepochen aufgezeigt (U. K�hn, Kirche, 1990, 39ff.). So hat Melanchthon in den "Loci communes" von 1559 schliesslich die Kirche als "coetus vocatorum", als Zusammenkunft der sichtbar durch Gottes Wort Gerufenen, bezeichnet � in deutlicher Abgrenzung von fr�heren pr�destinatianischen Bezeichnungen wie "coetus electorum" ("Zusammenkunft der Erw�hlten"), die sich rein auf die unsichtbare Kirche bezogen: "Jedesmal, wenn wir an die Kirche denken, sollen wir schauen auf die Versammlung der Berufenen (coetum vocatorum), welche ist die sichtbare Kirche, und sollen nicht davon tr�umen, dass irgendwelche Erw�hlten anderswo seien ausser in eben dieser sichtbaren Versammlung. Denn Gott will anders nicht angerufen noch erkannt werden, denn wie er sich offenbart hat, und er hat sich nicht anderswo offenbart ausser in der sichtbaren Kirche, in der allein die Stimme des Evangeliums erschallt. Und wir sollen nicht erdichten eine andere unsichtbare und stumme Kirche von Menschen, die doch in diesem Leben leben, sondern die Augen und der Sinn sollen schauen auf die Versammlung der Berufenen, d. i. derer, die das Evangelium Gottes bekennen ... Aber dies sei die Definition: die sichtbare Kirche ist die Versammlung derer, die das Evangelium von Jesus Christus annehmen und die Sakramente recht brauchen, in welcher Versammlung Gott durch den Dienst am Evangelium (ministerium evangelii) wirksam ist und viele zum ewigen Leben wiedergebiert, jedoch viele sind, die nicht wiedergeboren sind, aber die wahre Lehre eintr�chtig halten" (CR 21, 825ff.).

Auch bei Calvin besitzt der Gedanke der sichtbaren Kirche wesentliche Bedeutung, wenn auch nicht in der starken Einseitigkeit wie beim sp�ten Melanchthon. Calvin h�lt durchaus an der unsichtbaren Kirche der Erw�hlten fest. So l�sst er etwa im Catechismus Genevensis von 1545 auf die Frage "Was ist die Kirche?" den Sch�ler antworten: "Die Gesamtheit und Gemeinschaft (Corpus et societas) der Gl�ubigen, die Gott zum ewigen Leben pr�destiniert hat ... Es gibt freilich auch eine sichtbare Kirche Gottes, welche er uns durch bestimmte Merkmale und Kennzeichen (indiciis notisque) kenntlich gemacht hat. Aber hier wird im eigentlichen Sinn (proprie) von der Versammlung (congregatione) derer gesprochen, welche er durch seine heimliche Erw�hlung zum Heile angenommen hat. Die aber wird weder allgemein mit den Augen gesehen noch durch Zeichen unterschieden" (Cat. Gen. 3; zit. nach: E. Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 1964, 210f.). Dennoch legt Calvin vor allem in der letzten Fassung seiner "Institutio" im Jahre 1559 den Schwerpunkt eindeutig auf die Beschreibung der sichtbaren Kirche mit ihren Kennzeichen, ihren �mtern, ihren Bekenntnissen, ihrer Gesetzgebung und ihrer Kirchenzucht. Calvins Bem�hungen um die Begr�ndung eines sichtbaren Kirchenwesens in Strassburg und Genf finden hier ihre dogmatische Verdichtung. Seine Vorbildung als Jurist d�rfte bei der starken Betonung der rechtlichen Seite der Kirche sowie ihrer Verzahnung mit der Gesellschaft nicht unbedeutend gewesen sein.

Alle Reformatoren bezeichnen die sichtbare Kirche als "corpus permixtum" (vermischten Leib) aus wahrhaft Gl�ubigen und Heuchlern (vgl. z.B. CA 8), aber sie ziehen daraus unterschiedliche Konsequenzen. W�hrend Luther den Akzent auf die Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes legt, das die Heiligung bewirkt, spielt bei Melanchthon und vollends bei Calvin der Erziehungsgedanke eine zentrale Rolle. "Der Erziehungsgedanke mit dem Ziel der Heiligung der Christen und der Vollkommenheit ihrer Gemeinschaft ist grundlegend f�r Calvins Kirchenverst�ndnis" (U. K�hn, a.a.O., S. 60). Aus dem Erziehungsgedanken erkl�rt sich auch der gro�e Raum, den die Kirchenzucht in Calvins "Insitutio" einnimmt, ohne allerdings zu einer eigenen nota ecclesiae zu werden (das ist erst in sp�teren reformierten Bekenntnissen der Fall). Dennoch sind weder Luther noch Melanchthon noch Calvin der Ansicht, dass die Vollkommenheit auf Erden je erreicht werden k�nne � in Abgrenzung gegen manche Schw�rmer, die >donatistische und >perfektionistische Vorstellungen vertraten. Die Folge der christlichen Erziehung ist ein neuer Lebenswandel im Gehorsam gegen Gottes Wort � trotz aller verbleibenden M�ngel und Schw�chen. So vergleicht Melanchthon die Kirche mit einer "Versammlung �hnlich einer Schulklasse (scholastico coetui)" und nennt als dritte nota ecclesiae neben Wort und Sakrament den "Gehorsam, der dem Dienst am g�ttlichen Wort ... geschuldet" wird (CR 21, 835; 23, 37f.). Und Calvin definiert: "Danach sollen wir die Menschen als Glieder der Kirche erkennen, die durch das Bekenntnis des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen" (Institutio IV,1,8). Die geordnete Wortverk�ndigung, Sakramentsverwaltung und Erziehung erfordert nach Ansicht der Reformatoren die Einrichtung von �mtern.

3. Das allgemeine Priestertum der Gl�ubigen schlie�t die Einrichtung von �mtern nicht aus. Es gibt allerdings keinen wesensm�ssigen Unterschied zwischen Klerus und Laien, sondern nur einen Unterschied bez�glich der Funktion und Beauftragung. Die Sukzession beschr�nkt sich auf die Weitergabe der apostolischen Lehre.

In Ablehnung der r�misch-katholischen Hierarchie und des Papsttums, der Unterscheidung zwischen Klerus und Laien sowie eines geweihten Amtspriestertums vertritt Martin Luther die Lehre vom "allgemeinen Priestertum aller Gl�ubigen". Ein sakerdotaler Sonderstatus und eine heilsvermittelnde Funktion des Amtspriestertums sind mit der Rechtfertigung des S�nders allein aus Gnaden und der alleinigen Heilsmittlerschaft Jesu Christi unvereinbar. Luther st�tzt sich bei der Lehre vom "allgemeinen Priestertum aller Gl�ubigen" auf Bibelstellen wie 1. Petr 2,5.9; Offb 1,6; 5,10 und 1. Kor 14. In seiner Schrift "De instituendis ecclesiae ministris" ("Von der Einrichtung kirchlicher �mter") aus dem Jahre 1523 schreibt er, "dass alle Christen gleicherweis (ex aequo) Priester seien. Denn den Spruch 1. Petr 2,9 'Ihr seid das k�nigliche Priestertum` und Offb 5,10 'Und hat uns unserm Gott zum K�nigtum und Priestern gemacht` hab ich mit andern B�chern schon gen�gsam eingebl�ut. Es sind aber der priesterlichen �mter etwan diese: lehren, predigen und das Wort Gottes verk�ndigen, taufen, konsekrieren oder die Eucharistie austeilen, S�nden binden und l�sen, f�r andre beten, opfern und urteilen �ber aller Lehren und Geister ... Das erste aber und h�chste von allen, in dem alle andern hangen, ist das Wort Gottes lehren" (WA 12, 179f.)

Um Priester in diesem Sinne zu werden, ist nach Luther keine besondere Priesterweihe notwendig, die einen "Character indelebilis" verleihen w�rde. Nein, Priester ist jeder Christ � und Christ wird man durch die Taufe und den Glauben an Jesus Christus. Taufe und Glauben sind bei Luther in einer untrennbaren Einheit verbunden. Luther spricht von einem "Taufschatz", der Zueignung einer objektiven Gnade beim Taufgeschehen, aber "der glaube macht die person allein wirdig, das heylsame G�ttliche wasser n�tzlich zu empfahen ... On glauben ist es nichts nutz ... on Glauben k�nde man sie nicht fassen" (WA 30/1, 216). Infolge seiner Lehre von der "gratia praeveniens" (zuvorkommende Gnade) und der Taufe als sakramentalem Geschehen ist f�r Luther die Kindertaufe die Regel. Jede "Wiedertaufe" wird abgelehnt, die "Anabaptisten" werden hart bek�mpft.

Obwohl somit alle Gl�ubigen Priester im grunds�tzlichen Sinne sind und sie den Priesterdienst z.B. in ihrem Hause auch wahrnehmen sollen, und obwohl Luther � vor allem in seinen Fr�hschriften � den vielf�ltigen Charismen in der Gemeinde einen gewissen Freiraum zugesteht, h�lt er dennoch die Einf�hrung festgelegter �mter im Blick auf den �ffentlichen Dienst f�r unumg�nglich. Ausschlaggebend hierf�r ist das Ordnungsmotiv ("Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens"; 1. Kor 14,33), das Gabenmotiv (jeder soll die seinen Gaben entsprechende Funktion bekleiden, woraus sich bestimmte �mter ergeben) und das Stellvertretungsmotiv (bestimmte Aufgaben und Rechte sollen von der Gemeinde an daf�r Begabte und Berufene als Stellvertreter und Repr�sentanten delegiert werden) (vgl. H. Lieberg, Amt und Ordination bei Luther und Melanchthon, 1962, 69ff.).

Die �mter werden durch ordentliche Berufung der Gemeinde ("rite vocatus"; CA 14), oft verbunden mit einer Ordinationshandlung, �bertragen. Sie sind nicht durch besondere Weihen oder �bernat�rliche Wesensver�nderungen der Amtstr�ger, sondern ganz vom Auftrag und der Funktion bestimmt, die diese wahrnehmen sollen. Auftrag und Funktion wiederum ergeben sich aus dem Wort Gottes als Grundkonstitutivum des Christseins und der Gemeinde. Man kann somit bei Luther von einem funktional-verbalistischen Amtsverst�ndnis sprechen � im Unterschied zum klerikal-sakramentalis-tischen der r�misch-katholischen Kirche.

Welche Bedeutung f�r Luthers �mterlehre das Wort Gottes besitzt, wird von verschiedenen Autoren immer wieder betont. So spricht Klaus Peter Voss von einer "Verlagerung der Vollmachtsf�lle von der priesterlich-amtseigenen Ordinationsgabe in die souver�ne, lebendige Kraft des g�ttlichen Wortes und Geistes". Er schreibt: "Es gibt nach Luthers Ansicht keinen au�erordentlichen Vollmachtsbesitz der Amtstr�ger. Es ist allein das Wort in seiner von Gott gewirkten lebendigen und Glauben schaffenden Kraft, das allen kirchlichen Diensten und Verk�ndigungsformen eine heilsrelevante Wirkung verleiht" (K. P. Voss, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums, 1990, 200). Und Hellmut Lieberg f�hrt aus: "Wenn auch Luthers Amtslehre in einer durch die jeweilige Situation stark bedingten und in einer Entwicklung ausgebildeten Zweipoligkeit (sc. zwischen allgemeinem Priestertum und gestiftetem Amt) ihr Wesen hat, ist sie nicht ohne eine tiefe innere Einheit. Man kann diese wohl in der alles beherrschenden Bedeutung des Wortes erblicken" (H. Lieberg, a.a.O., 241).

Aus dem Gesagten folgt, dass es nach reformatorischem Verst�ndnis eine Sukzession der Lehre, des �berlieferten Wortes Gottes, aber keine Sukzession geweihter Amtstr�ger gibt. Wie der lutherische Dogmatiker Hermann Sasse darlegt, "ist die echte apostolische Sukzession immer nur die Sukzession der Lehre, feststellbar an der Identit�t des Inhalts der Verk�ndigung der jeweiligen Kirche mit dem im Neuen Testament gegebenen Zeugnis der Apostel. Wohl gibt es auch eine Sukzession der Lehrer, der treuen Verk�ndiger der apostolischen Botschaft. Aber diese ist nur Gott bekannt, so wie nur Gottes Auge die wahre Kirche sieht ... Indem das Aufstellen von Amts- und �berlieferungsketten in die Kirche eindrang, drang wieder ein St�ck uralter nichtchristlicher Religion in die Kirche ein. Man suchte in menschlichen B�chern das, was nur in den B�chern Gottes steht" (H. Sasse, "Successio Apostolica", in: In statu confessionis, Bd. 1, 1975, 195).

Der Amtsbegriff ist bei Melanchthon, Zwingli und Calvin st�rker fixiert als beim jungen Luther (vor 1525). Das Element des Freien, Prophetisch-Charismatischen tritt bei ihnen weitgehend zur�ck. Nach Klaus Peter Voss wird dies "vor allem an der Ausgliederung von 1. Kor 14,29ff aus der Schriftbegr�ndung erkennbar". Voss meint, dass dadurch die "von Luther vollzogene Einbeziehung der charismatischen Gemeindeprophetie in das allgemeine Priestertum ... wieder r�ckg�ngig gemacht (wird) ... Auch wenn es, besonders bei Calvin, im Vergleich zu Luther zu einer st�rkeren Differenzierung und Profilierung der urchristlichen Charismenvielfalt kommt, bleibt die Auslegung und Anwendung beschr�nkt auf eine Einpassung in ein vorgegebenes amtszentriertes Ordnungsmuster. Die verschiedenen Einzelcharismen werden daher in aller Regel mit einer besonderen Einzelfunktion des Amtes identifiziert und weniger auf alle Gemeindeglieder bezogen. Neben eine �bertragung auf das kirchliche Synodalwesen (besonders bei Melanchthon) r�ckt die Gleichsetzung der Prophetie mit einer ausgesprochen theologisch-gelehrten Schriftauslegung in den Vordergrund, mit der z.T. die Notwendigkeit und Einrichtung einer besonderen Theologenausbildung verkn�pft wird (Zwingli, Melanchthon)" (K. P. Voss, a.a.O., 203).

In seiner Lehre vom vierfachen Amt (quadruplex ministerium) st�tzt sich Calvin v.a. auf Eph 4,11, wobei er zwischen einmaligen �mtern in apostolischer Zeit (Apostel, Propheten, Evangelisten) und bleibenden �mtern (Hirten, Lehrer) unterscheidet. Obwohl er von einem v�lligen Aufh�ren der ersten �mter in nachapostolischer Zeit nicht sprechen m�chte ("der Herr ... erweckt sie auch sonst zuweilen, je nachdem es die Notdurft der Zeiten erfordert"), sieht er sie doch in aller Regel als einzigartig und beendet an. Wesentliche Funktionen, die von den Aposteln, Propheten und Evangelisten in urchristlicher Zeit wahrgenommen wurden, seien nun allerdings auf die Lehrer und Hirten �bergegangen. So schreibt Calvin: "Jetzt sind wir uns dar�ber klar, welche �mter im Kirchenregiment mit zeitlich begrenzter G�ltigkeit bestanden haben und welche dazu eingerichtet sind, immerfort bestehen zu bleiben. Wenn wir nun die Evangelisten mit den Aposteln verbinden, so bleiben uns je zwei gleichartige �mter �brig, die sich untereinander gewisserma�en entsprechen. Denn die gleiche �hnlichkeit, die unsere (heutigen) Lehrer mit den fr�heren Propheten haben, besteht auch zwischen den Hirten (Pastoren) und den Aposteln. Das Amt der Propheten war hervorragender (als das unserer Lehrer), und zwar wegen der besonderen Gabe der Offenbarung, die den Propheten zuteil geworden war" (Institutio IV,3,4f.).

Als bleibende �mter betrachtet er neben Hirten und Lehrern auch �lteste und Diakone. Ihnen teilt er folgende Aufgaben zu (vgl. Institutio IV,3,4-9):

Um in ein Amt berufen zu werden, reicht f�r Calvin � wie f�r Luther und die anderen Reformatoren im Unterschied zu manchen "Schw�rmern" � die "innere Berufung" (vocatio interna vel arcana) durch den Heiligen Geist und das Gewissen nicht aus. Damit alles ordnungsgem�� zugehe, muss die "�u�ere Berufung" (vocatio externa) durch die Gemeinde hinzukommen. So schreibt z.B. Calvin: "Damit sich nun also unruhige und aufr�hrerische Menschen nicht ohne Grund eindr�ngen, um zu lehren oder zu regieren � was sonst geschehen w�rde � , so ist ausdr�cklich verboten, dass sich jemand ohne Berufung ein �ffentliches Amt in der Kirche aneignet. Will also jemand als wahrer Diener der Kirche angesehen werden, so muss er zuerst rechtm��ig berufen (rite vocatus) sein, ferner muss er aber auch seiner Berufung entsprechen, das heisst: er muss die ihm �bertragenen Aufgaben anfassen und ausf�hren" (Institutio IV,3,10).

Kommt ein Amtstr�ger seinem Auftrag nicht nach oder verh�lt er sich seines Amtes unw�rdig, dann kann er nach reformatorischer Auffassung abgesetzt werden und verliert seine Ordinationsrechte � ein deutlicher Unterschied zum katholischen Verst�ndnis vom unverlierbaren "Character indelebilis" durch die Priesterweihe, den die Reformatoren f�r eine "Menschenerfindung" halten (vgl. Lieberg, a.a.O., S. 101). So betont Luther: "Wenn ich nicht mehr predigen kan oder wil, trit ich wider inn den gemeinen hauffen, bin wie du, und prediget ein ander" (WA 41, 209).

4. Nach dem "Krisenjahr der Reformation" 1525 kam es zu einer wachsenden Verquickung von Kirche und Staat sowohl bei Luther als auch bei den anderen Reformatoren. Die sp�tere "Volkskirche" fand ihren Anfang. Der Gedanke einer "ecclesiola in ecclesia", einer Kerngemeinde derer, "die mit Ernst Christen sein wollen", innerhalb der Kirche wird bei Luther zwar erw�hnt, aber nicht verwirklicht.

W�hrend der junge Luther bereit war, neue ekklesiologische Modelle zu erproben, und eine gro�e Offenheit f�r das allgemeine Priestertum und das charismatische Element zeigte, bildeten sich aufgrund negativer Erfahrungen um 1525 engere dogmatische Formen sowie eine wachsende Bindung der reformatorischen Kirche an das Staatswesen heraus. Es waren vier � zum Teil schon l�nger andauernde � Konflikte, die Luther schlie�lich ab dem Jahr 1525 zu folgenden Abgrenzungen veranlassten: a. Der Konflikt mit Karlstadt und den "Zwickauer Propheten" f�hrte 1524/25 zur Schrift "Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament" und damit zum endg�ltigen Bruch mit den sogenannten Schw�rmern. � b. Der Bauernkrieg mit seinen furchtbaren Zerst�rungen veranlasste Luther, zunehmend an der M�ndigkeit der einfachen Christen zu zweifeln und die Durchf�hrung der Reformation in die Ordnungsgewalt der Landesf�rsten zu legen. � c. Der Konflikt mit Erasmus von Rotterdam �ber den freien Willen f�hrte zur Entfremdung zwischen Luther und dem Humanismus. � d. Der Konflikt mit Kaspar von Schwenckfeld f�hrte zum Bruch mit dem Spiritualismus und damit zur Betonung des �u�eren Kirchentums.

Ab 1526 wurde mit dem Ausbau lutherischer Territorialkirchen durch die Landesf�rsten begonnen. Die Obrigkeit galt Luther als Notbehelf f�r die Ordnung der Kirche, die er jedoch dankbar in Anspruch nahm. Der Landesherr bekleidete das oberste kirchliche Amt und war den kirchlichen Beh�rden und Einrichtungen gegen�ber weisungsberechtigt. Der Calvinismus hingegen lehnte eine Unterordnung der Kirche unter den Staat ab, sondern versuchte umgekehrt, den Staat calvinistischen Prinzipien zu unterwerfen, wie z.B. in Strassburg und Genf. Sowohl im Luthertum als auch im Calvinismus handelte es sich um eine Verquickung von Kirche und Staat, gegen die sich z.B. die t�uferischen Kreise heftig wandten. Will man einen kirchengeschichtlichen Vergleich ziehen, kann man sagen, dass sich das lutherische Staatskirchentum in die Richtung eines konstantinisch-fr�hmittelalterlichen C�saropapismus bewegte, w�hrend der calvinistische Kirchenstaat formale �hnlichkeit mit dem Herrschaftsprinzip des Papalismus oder Klerikalismus des Hochmittelalters aufwies.

Der Augsburger Religionsfriede von 1555 billigte den Landesherren (aber nicht den einzelnen Untertanen!) die Freiheit zu, sich f�r die katholische oder lutherische Religion zu entscheiden ("cuius regio, eius religio"). Wer nicht den Glauben seines F�rsten teilte, musste auswandern. Die Verteilung der Gebiete auf die Konfessionen geschah im wesentlichen nach politischen, nicht nach religi�sen Gesichtspunkten. Jetzt war die lutherische Kirche vollends zur Staatskirche geworden und ist dies in L�ndern wie Schweden und Finnland bis heute geblieben. In Deutschland hat sich die landesherrliche Kirchengewalt zum Teil bis in das 20. Jahrhundert (1918) erhalten. Die Gliedkirchen der EKD sind in ihrer Aufteilung bis heute vom Territorialprinzip gepr�gt. Zwar werden die evangelischen Landeskirchen in Deutschland nicht mehr von Territorialf�rsten geleitet und die Verquickung von Staat und Kirche wurde gr��tenteils aufgel�st, doch besitzen die gro�en Kirchen auch heute noch gewisse Privilegien gegen�ber anderen religi�sen Gemeinschaften (Kirchensteuereinzug durch den Staat, Erteilung von Religionsunterricht u.a.).

Mit dem Staatskirchentum ist das Volkskirchentum unl�sbar verbunden. Denn von ihrem Selbstanspruch her umfasst eine Staatskirche m�glichst alle Bewohner ihres Gebietes, also das ganze Volk. Damit aber ist ein universaler Anspruch gegeben, der die Freiwilligkeit einer Mitgliedschaft zumindest stark einschr�nkt und ein Ritual verlangt, welches eine m�glichst kollektive Aufnahme neuer Mitglieder erm�glicht. Dieses Ritual stellt die Kindertaufe dar, die sowohl von Luther wie von Zwingli und Calvin beibehalten wurde. Durch den Akt der Kindertaufe � m�glichst noch im S�uglingsalter - werden der Kirche st�ndig neue Mitglieder zugef�hrt, die ihren Erhalt sichern.

Allerdings muss betont werden, dass sich Luther mit dem daraus entstehenden "corpus permixtum" nicht zufrieden geben wollte. Er wusste darum, dass sich hier auf Erden keine reine Gemeinde aus lauter Glaubenden bauen l�sst, weil kein Mensch dem anderen ins Herz schauen kann und sich immer wieder Heuchler unter die wahren Gl�ubigen mischen. Und dennoch machte er � bei gleichzeitiger Bejahung der landes- und volkskirchlichen Strukturen � einen Vorschlag, den er � wom�glich angeregt durch ein Gespr�ch mit Schwenckfeld im Dezember 1525 � in der Vorrede zur Deutschen Messe von 1526 in klassischer Weise formuliert hat. Nach der Beschreibung der lateinischen und deutschen Messe als den ersten beiden Gottesdienstformen spricht er als drittes vom gottesdienstlichen Zusammentreffen solcher Menschen, "die mit Ernst Christen sein wollen", als einer Art "ecclesiola in ecclesia" ("Kirchlein in der Kirche"). Ich zitiere die betreffende Passage ausf�hrlich: "Aber die dritte Weise, die rechte Art der evangelischen Ordnung haben sollte, m�sste nicht so �ffentlich auf dem Platz geschehen unter allerlei Volk, sondern diejenigen, so mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelium mit Hand und Munde bekennen, m�ssten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werk zu �ben. In dieser Ordnung k�nnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, aussto�en oder in den Bann tun nach der Regel Christi, Matth. 18,15f. Hier k�nnte man auch ein gemeinsames Almosen den Christen auflegen , das man williglich g�be und austeilete unter die Armen nach dem Exempel S. Pauli 2. Kor 9,1.2.12. Hier bed�rfte es nicht gross und viel Ges�nges. Hier k�nnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und Sakrament halten und alles aufs Wort und Gebet und die Liebe richten. Hier m�sste man einen guten Katechismum haben �ber den Glauben, zehen Gebote und Vaterunser. K�rzlich, wenn man die Leute und Personen h�tte, die mit Ernst Christen zu sein begehrten, die Ordnungen und Weisen w�ren balde gemacht" ("Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes", in: WA 19,75).

Gerhard Hilbert (Ecclesiola in ecclesia, 1920) hat nachgewiesen, dass diese Anregung Luthers nicht nur im Jahre 1526 begegnet, sondern immer wieder im Werk Luthers auftaucht. Dennoch hat Luther nie die Kraft und die Personen gefunden, diesen Gedanken zu verwirklichen. Erst im Zeitalter des Pietismus � vor allem in Philipp Jacob Speners "collegia pietatis" � hat er (nach einigen kurzen Anl�ufen in separatistischen Kreisen) dauerhaftes Leben erlangt. So muss Luther im Jahre 1526 sagen: "Aber ich kann und mag noch nicht eine solche Gemeinde oder Versammlung ordnen. Denn ich habe noch nicht Leute und Personen dazu; so sehe ich auch nicht viel, die dazu dringen. Kommts aber, dass ichs tun muss und dazu gedrungen werde, dass ichs aus gutem Gewissen nicht lassen kann, so will ich das meine gerne dazu tun und auf das beste, so ich vermag, helfen. Indes will ichs bei den gesagten zwei Weisen lassen bleiben und �ffentlich unter dem Volk solchen Gottesdienst, die Jugend zu �ben und die andern zum Glauben zu rufen und zu reizen neben der Predigt, helfen f�rdern, bis dass die Christen, so mit Ernst das Wort meinen, sich selbst finden und anhalten, auf dass nicht eine Rotterei draus werde, so ichs aus meinem Kopf treiben wollte. Denn wir Deutschen sind ein wild, roh tobend Volk, mit dem nicht leichtlich ist etwas anzufangen, es treibe denn die h�chste Not" (a.a.O.).

Zur Beurteilung s. auch: Gemeinde, Kirchenreform, Bekennende Kirche, T�uferisches Kirchenverst�ndnis, Ekklesiologie.

Lit. (au�er der im Text genannten): L Gassmann, Kirche in der Diskussion. Papstkirche, Staatskirche oder Gemeinschaft der Glaubenden?, 2004.

Lothar Gassmann


Index

Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):

1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch

Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de