Schrift, Tradition und Lehramt

Klick auf den Kompass �ffnet den IndexA. Die drei Fundamente der katholischen Lehre

Der evangelische Theologe Karl Barth sprach im Blick auf den r�mischen Katholizismus von einer "Bindestrich-Theologie". Bindestrich-Theologie hei�t, da� zwei Gr��en, die zun�chst wie Gegens�tze aussehen, miteinander in Korrelation, ja sogar in Vereinigung gebracht werden k�nnen, etwa Heilige Schrift und Tradition, Glaube und Vernunft, Gnade und Natur, Kreuzesopfer Christi und eucharistisches Opfer, Christus und die Heiligen usw. Dem gegen�ber steht das vierfache reformatorische Allein: sola scriptura (allein die Heilige Schrift), solus Christus (allein Christus), sola gratia (allein aus Gnaden), sola fide (allein durch den Glauben).

Es ist geradezu spezifisch f�r den Katholizismus, dass er keine Religion der Gegens�tze ist, sondern der Integration, ja sogar der Synthese, der Verbindung von zun�chst unvereinbar scheinenden polaren Gegens�tzen. Und das kann er deshalb tun, weil er beansprucht, die allumfassende Religion (griech. katholikos = allumfassend) zu sein, welche die F�lle und Ganzheit des Seins in sich umfa�t und integriert.

Die Katholische Kirche ruht nicht auf einem Fundament, der Heiligen Schrift, sondern auf drei Fundamenten: die heilige Schrift inklusive Apokryphen; die �berlieferung der Kirche aus altkirchlicher, aber auch gesamtkirchlicher Entwicklung; und darauf aufbauend das Lehramt der Kirche, verk�rpert insbesondere im h�chsten Funktionstr�ger, dem Papst. Im II. Vatikanischen Konzil wurde dies so formuliert:

"Es zeigt sich also, da� die heilige �berlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gem�� dem weisen Ratschlu� Gottes so miteinander verkn�pft und einander zugesellt sind, da� keines ohne die anderen besteht und da� alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen" (zit. nach J. Mc Carthy, Das Evangelium nach Rom, S. 333).

B. Was geh�rt zur katholischen Tradition?

Was geh�rt nun zur Tradition der Katholischen Kirche? Es sind Verlautbarungen der anerkannten Kirchenv�ter, Konzilsbeschl�sse und p�pstliche Beschl�sse aus den zwei Jahrtausenden der Christenheit. Nachfolgend nenne ich einige Beispiele f�r hoch anerkannte Verlautbarungen.

Da ist zum einen der Katechismus der Katholischen Kirche als verbindliches Lehrdokument, das f�r die gesamte Weltchristenheit (zumindest f�r die katholischen Christen) in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts neu herausgegeben wurde. Dies ist ein Weltkatechismus, in dem verbindlich die Lehre zusammengestellt ist f�r jeden Menschen, der katholisch sein will. In diesem Katechismus wird vieles zitiert, zum Beispiel aus den Konzilen.

Es gab bisher 21 allgemeine oder �kumenische Konzile im Laufe der Kirchengeschichte. Die Verlautbarungen dieser Konzile werden als ma�gebliche Definitionen des r�misch-katholischen Glaubens betrachtet. Die letzten und einflussreichsten Konzile f�r die Gegenwart sind das Konzil von Trient 1545-1563, also unmittelbar im Todesjahr Luthers begonnen und dann dar�ber hinaus gef�hrt. Dieses hat vor allem die Auseinandersetzung mit der reformatorischen Theologie betrieben und ist ja bis heute in vielem f�r Katholiken g�ltig. Dann ist dar�ber hinausgehend und insbesondere bez�glich der p�pstlichen Unfehlbarkeitslehre bekannt geworden das I. Vatikanische Konzil. Dies war f�r zwei Jahre, n�mlich 1869-1870, bedeutend k�rzer. Und schlie�lich in der nahen Gegenwart das II. Vatikanische Konzil 1962-1965, bei dem manche Verlautbarungen der letzten Konzile modernisiert und durch Neuinterpretation etwas relativiert und an den Zeitgeist angepasst wurden. Beim II. Vatikanischen Konzil hat sich die Katholische Kirche etwas mehr ge�ffnet und der Gegenwart angepasst (ital. aggiornamento). Die Konzilsbeschl�sse sind f�r Katholiken verbindlich. Es existieren auch p�pstliche Schreiben, welche gro�e Bedeutung f�r den einzelnen Katholiken besitzen, allerdings nicht die gleiche Verbindlichkeit wie konziliare Verlautbarungen.

Ferner gibt es den Codex Iuris Canonici, den Kodex des kanonischen Rechts, welcher die Gesetze und Normen der R�misch-Katholischen Kirche enth�lt. Der Kodex von 1983 umfasste 1752 Gesetze f�r Katholiken. Dieses Gesetzbuch l�sst sich durchaus vergleichen mit dem B�rgerlichen Strafgesetzbuch des Staates. In den Konzilien wird katholischer Glaube definiert. Es geht um Glaubensfragen, Christologie, Ekklesiologie usw., w�hrend der Rechtskodex Dinge regelt, die mit Pflichten und Rechten der Katholiken zu tun haben, mit Fragen der Sakramentsverwaltung, Organisation katholischer Fakult�ten, Einsetzung und Entlassung von Priestern und Bisch�fen und �berhaupt von Amtstr�gern. Alle diese Dinge werden hier bis ins Detail abgesichert.

Der Katholizismus kennt auch viele liturgische Schriften und �ltere Katechismen, die allerdings durch den neuen Katechismus �berholt sind. Verbindlich ist also jetzt der neue Weltkatechismus aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts.

C. Was lehrt die Katholische Kirche �ber die Bibel?

Im neuen r�misch-katholischen Katechismus (Katechismus der Katholischen Kirche = KKK) wird zun�chst festgestellt, dass Gott der Urheber, der Autor der Heiligen Schrift, ist, dass die Heilige Schrift entstanden ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes. Gott hat die menschlichen Verfasser der Heiligen Schrift inspiriert (KKK Nr. 105 und 106). Sie ist also Gottes Wort und Menschenwort. Das wird von r�misch-katholischer Seite durchaus gesagt, auch dass die inspirierten B�cher die Wahrheit lehren (Nr. 106). In KKK Nr. 107 hei�t es:

"Da also all das, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten mu�, ist von den B�chern der Schrift zu bekennen, da� sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles Willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte."

In der dogmatischen Konstitution �ber die g�ttliche Offenbarung vom II. Vatikanischen Konzil wird behauptet, dass eine Irrtumsm�glichkeit auf rein profanem (weltlichem) Gebiet in der Heiligen Schrift bestehe. Die Heilige Schrift lehre alles das wortgetreu und ohne Irrtum, was Gott

"um unseres Heiles Willen in den Heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte",

aber es gebe Irrt�mer auf historischem und naturwissenschaftlichem Gebiet (Neuner-Roos, S. 105).

Die Wahrheit wird also in Heilsfragen betont, aber nicht unbedingt in naturwissenschaftlichen Fragen. Davon ist man inzwischen im Katholizismus davon abger�ckt (s.u.). Diese verh�ngnisvolle Unterscheidung finden wir unter dem Einfluss der Aufkl�rungsphilosophie und "modernen" Theologie also inzwischen auch im Katholizismus: die Unterscheidung zwischen Zuverl�ssigkeit in Heilsdingen, aber angeblich mangelnder Zuverl�ssigkeit im naturwissenschaftlichen oder historischen Bereich (s. hierzu ausf�hrlicher: Bibel; Bibelkritik).

Ferner wird festgestellt, da� der christliche Glaube nicht eine Buchreligion sei, sondern dass das lebendige Wort, Christus selber, im Zentrum stehe (KKK Nr. 108). Und d iese Feststellung, dass das Christentum keine Buchreligion sei, ebnet den Weg f�r eine "dynamische" ("lebendige", "bewegliche") Auffassung vom Wort Gottes: vom Wort, das nicht im Buch der Heiligen Schrift allein fixiert sei, sondern lebendig auch heute durch Tradition und Lehramt zu uns spreche. So wird in Nr. 113 des R�mischen Katechismus gesagt:

"Die Schrift �in der lebendigen �berlieferung der Gesamtkirche` lesen."

Die Schrift und ihre Auslegung ist also eingebettet in die Tradition mit dem daraus erwachsenen Lehramt. So wird die Bedeutung der Heiligen Schrift relativiert und der Auslegung des Lehramts (Papsttum) unterworfen.

Ebenfalls im neuen Katechismus wird die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn aufgegriffen und f�r die Gegenwart best�tigt. Diese Lehre f�hrt zur Relativierung der klaren Aussagen der Heiligen Schrift. So hei�t es in Nr. 115:

"Nach einer alten �berlieferung ist der Sinn der Schrift ein doppelter: der w�rtliche Sinn und der geistliche Sinn. Dieser letztere kann ein allegorischer, ein moralischer und ein anagogischer sein."

Der allegorische Sinn ist eine Deutung �ber dem Wortsinn hinaus. Es wird etwas hineingelegt, was nicht vom Text und Kontext her dasteht. � Der moralische Sinn bezieht sich auf das richtige Handeln des Menschen, die Anwendung eines Textes auf das gegenw�rtige Handeln; auch wenn es ein Geschichtsbericht ist, wird er jetzt auf das Handeln des heutigen Menschen gedeutet. � Und der anagogische Sinn m�chte

"Wirklichkeiten und Ereignisse in ihrer ewigen Bedeutung sehen, die uns zur ewigen Heimat hinauff�hrt",

wie es im Katechismus formuliert wird (Nr. 117). Dies hat also eine eschatologische Komponente.

Der Merkvers des Mittelalters lautet: "Litera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, qou tendas anagogia." Auf deutsch: "Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; die Moral, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie."

Beurteilung: In der Predigt ist die Anwendung eines mehrfachen Schriftsinns � in aller Behutsamkeit und Vorsicht � durchaus legitim, wenn es um pers�nliche Anwendungsbereiche geht, aber nicht wenn Lehren aufgestellt werden. Wenn Lehren aufgestellt werden, ist vom Wortsinn auszugehen. Die erbauliche Anwendung, etwa in einer Predigt, ist also zu unterscheiden von der Aufstellung eines Dogmengeb�udes. Aber genau dies geschieht im katholischen Denken, dass mit Hilfe des "geistlichen" (allegorischen, moralischen und anagogischen) Schriftsinnes Lehrgeb�ude aufgebaut werden. Die Reformatoren haben demgegen�ber zu Recht die R�ckkehr zum eindeutigen Wortsinn und zur Klarheit der Heiligen Schrift (claritas scripturae) eingefordert und betrieben.

D. Das Verh�ltnis zwischen Heiliger Schrift, Tradition und Lehramt

Wie gestaltet sich nun das Verh�ltnis zwischen Heiliger Schrift, Tradition und Lehramt der Katholischen Kirche? Hierzu hei�t es in Neuner-Roos auf Seite 70:

"Insofern n�mlich dieses schriftliche Zeugnis vom Glauben der Urkirche als bleibend normative Gr��e f�r die sp�teren Zeiten der Kirche von Gott gewollt ist, ist die Heilige Schrift unmittelbar von Gott eingegeben. Gott ist ihr Urheber, was echte menschliche Verfasserschaft aber nicht ausschlie�t ... Auch das kirchliche Lehramt hat gegen�ber dem in der Heiligen Schrift niedergelegten Wort Gottes nur eine h�rende und dienende Funktion. Das Lehramt ist nicht Norm der Schrift, sondern Norm des Schriftverst�ndnisses des Einzelnen in der Kirche."

Es gibt also keine Freiheit des Einzelnen, die Schrift zu verstehen, sondern die Auslegung, die das kirchliche Lehramt � zugespitzt in der Person des Papstes � vertritt, ist normativ f�r alle Glieder der R�misch-Katholischen Kirche. Deshalb hat die Katholische Kirche jahrhundertelang ihren Gl�ubigen die Heilige Schrift vorenthalten, weil sie davon ausging, der Einzelne k�nne die Bibel gar nicht richtig verstehen. Es m�sse alles lehramtlich f�r die Gemeinden definiert werden. Wir lesen weiter bei Neuner-Roos auf Seite 70:

"Aber Gott konnte nicht dem Buchstaben allein seine Offenbarung und sein Gnadenangebot anvertrauen, sondern das geschriebene Wort mu� in das lebendige Wort der �berlieferung eingegliedert bleiben."

Das Lehramt ist also der Heiligen Schrift vorgeordnet, was die Auslegung und Vergegenw�rtigung anbetrifft. Dies wird durch das weitere Zitat noch deutlicher:

"Schon allein die Bestimmung, welche B�cher von Gott eingegeben sind, ist nur durch die lebendige �berlieferung m�glich, da ja kein Buch an sich selber unmittelbar die Zeichen g�ttlicher Eingebung tr�gt. Vor allem aber bedarf der Inhalt der Heiligen Schrift selbst einer Norm der Auslegung und stets neuen Aktualisierung ... So hat die Kirche, gegen die reformierten (gemeint ist wohl: reformatorischen; L. G.) Kirchen, immer daran festgehalten, da� der Buchstabe der Heiligen Schrift f�r sich allein nicht die ausschlie�liche Norm des Glaubens sein kann. Vielmehr ist das Wort Gottes in der Heiligen Schrift der ganzen Kirche anvertraut, die durch das authentische Lehramt den Sinn der Schrift darzulegen hat und dies unter dem Beistand des verhei�enen Heiligen Geistes, vor allem in ihrer Glaubenspredigt und unter Umst�nden auch durch authentische, ja in seltenen F�llen durch unfehlbare Einzelentscheidungen tut" (Neuner-Roos, S. 70 f.).

Dies richtet sich unmittelbar gegen das reformatorische �sola scriptura�, �Allein die Heilige Schrift�. Es sei also nicht die Heilige Schrift die ausschlie�liche Norm des Glaubens, sondern das authentische Lehramt habe dieses in der Heiligen Schrift verankerte Wort Gottes authentisch darzulegen unter Beistand des Heiligen Geistes, gegebenenfalls unfehlbar. Hier wird eine in Wirklichkeit menschliche Autorit�t, das Papsttum, �ber das inspirierte Wort Gottes gestellt, da die Auslegung ja der Schl�ssel sei zum Wort Gottes selber und ohne diese Zwischenstufe, diesen Schl�ssel, keiner das Wort Gottes angeblich richtig verstehen k�nne. Das wird auch offen zugegeben, indem gesagt wird, dass die �berlieferung gegen�ber der Heiligen Schrift das Umfassendere sei:

"Denn �berlieferung ist, ohne den Boden der Schrift zu verlassen, mehr als der Buchstabe der Schrift. Die �berlieferung ist das Umfassendere, da es einen Fortschritt im Verst�ndnis der �berlieferten Worte und Dinge gibt und die Kirche aus der lebendigen �berlieferung die Gewi�heit �ber alles Geoffenbarte sch�pft (Dogmenentwicklung)" (Neuner-Roos, S. 71).

Die �berlieferung erf�hrt also gegen�ber der Heiligen Schrift eine enorme Aufwertung, ja, ohne sie k�nne niemand die Schrift wirklich verstehen. Somit wird also in die H�nde des Papstes und des Bischofskollegiums unter Leitung des Papstes die letztg�ltige Auslegung gelegt. Im II. Vatikanum wurde dies so definiert:

"Die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die Heilige �berlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden F�hrung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verk�ndigung treu bewahren, erkl�ren und ausbreiten. So ergibt sich, da� die Kirche ihre Gewi�heit �ber alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein sch�pft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden" (Neuner-Roos Nr. 148).

Die Heilige Schrift sei also Gottes Rede unter Anhauch des Heiligen Geistes, die �berlieferung sei die anvertraute Basis f�r die heutige Auslegung. Jetzt kommt der dritte Aspekt:

"Die Aufgabe aber, das geschriebene oder �berlieferte Wort Gottes verbindlich zu erkl�ren, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausge�bt wird" (Neuner-Roos Nr. 149).

Und nun eine gewisse Abmilderung:

"Das Lehramt ist nicht �ber dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was �berliefert ist, weil es das Wort Gottes aus g�ttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht h�rt, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens sch�pft" (ebd.).

Es wird also beansprucht, das Lehramt habe zwar eine wichtige Funktion, aber es sei im Einklang mit der Heiligen Schrift. Das ist der Selbstanspruch, den wir durchaus h�ren und pr�fen m�ssen. Wenn wir allerdings die Lehrentwicklung der Katholischen Kirche betrachten, treten viele � auch massive! � Widerspr�che zur Lehre der Heiligen Schrift selber auf, die man, wenn man sich nicht blind einem p�pstlichen Lehramt unterwirft, eindeutig erkennen kann (Sonderlehren).

Katholischerseits wird argumentiert, dass die �berlieferung der Heiligen Schrift historisch vorausgegangen ist, dass zuerst die m�ndliche �berlieferung da war und dann erst die Bibel entstand. Ist diese Behauptung haltbar oder nicht? Ich m�chte im Anschluss an James McCarthy (Das Evangelium nach Rom, S. 379 ff.) Folgendes dazu bemerken:

Erstens:

Christen waren niemals ohne Heilige Schrift. Sie hatten ja bereits die Schriften des Alten Testaments, des Alten Bundes. Dies wird etwa zum Ausdruck gebracht, als der auferstandene Herr seinen J�ngern auf dem Weg nach Emmaus begegnet und ihnen sagt:

"Oh, ihr Unverst�ndigen und im Herzen zu tr�ge, an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben" (Lk 24, 25).

Jesus erkl�rte seinen J�ngern, die er traf, von den Schriften des Alten Bundes her die Heilstatsachen, die in Jerusalem in seiner Gestalt geschehen waren. Die Gemeinde war also nie ohne Schrift. Es kamen dann nat�rlich die neutestamentlichen Schriften hinzu, die Jesus selber vorausgesagt hatte in Johannes 16:

"Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr k�nnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er h�ren wird, das wird er reden, und was zuk�nftig ist, wird er euch verk�ndigen. Derselbe wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er`s nehmen und euch verk�ndigen" (Joh 16,12-15).

Die Verherrlichung Jesu geschah einige Zeit sp�ter vor allem durch die Evangelien, die Unterweisung in der Wahrheit vor allem durch die Briefe und die Verk�ndigung der Zukunft vor allem durch die Johannesoffenbarung. So hat sich diese Ank�ndigung Jesu Christi wortw�rtlich erf�llt.

Zweitens:

Die Heilige Schrift stellt nicht lediglich aufgeschriebene �berlieferung dar und w�re damit auf einer Linie mit der r�misch-katholischen Tradition, sondern der Selbstanspruch ist nach 2. Tim. 3, 16 und 2. Petr. 1, 20f., dass es sich bei der Heiligen Schrift um vom Heiligen Geist unmittelbar inspirierte Aufzeichnungen handelt. Man kann sicherlich nicht behaupten, dass die kirchliche Tradition im gleichen Ma�e und in gleicher Weise inspiriert ist wie die Heilige Schrift.

Drittens

ist festzustellen, da� wir die Heilige Schrift nicht von der R�misch-Katholischen Kirche empfangen haben, sondern durch die Eingebung des Heiligen Geistes. Nat�rlich gibt es eine historische Entwicklung vom Urchristentum zum Fr�hkatholizismus, aber diese zog sich �ber Jahrhunderte hin und erreichte erst im 4. Jahrhundert mit der Entstehung der vom Kaiser anerkannten Reichskirche eine erste Ausformung (s. Papsttum) Entscheidend f�r die Anerkennung der einzelnen B�cher des Neuen Testaments war nicht in erster Linie deren kirchenamtliche Beglaubigung, sondern die Tatsache, dass sie sich lange zuvor bereits selber als echtes Wort Gottes ausgewiesen haben durch ihren Inhalt, ihre Herkunft von Aposteln oder Apostelsch�lern und durch die Einheitlichkeit ihrer Lehre (ohne gnostischen oder sonstigen h�retischen Einschlag). Schriften, die nicht mit dieser Apostellehre �bereinstimmten, wurden schon sehr fr�h als apokryph oder pseudepigraph ausgeschieden.

Viertens:

Entscheidend allerdings ist die Tatsache, dass die Bibel, die Heilige Schrift, alles Heilsnotwendige in sich selber enth�lt, dass also keine zus�tzliche Offenbarung oder Neuoffenbarung notwendig ist f�r das Heil des Menschen. In Joh 21,25 wird gesagt:

"Es gibt aber auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn diese alle einzeln niedergeschrieben w�rden, so w�rde, scheint mir, selbst die Welt die geschriebenen B�cher nicht fassen."

Und in Joh 20, 30 f. hei�t es:

"Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor den J�ngern getan, die nicht in diesem Buch geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, da� Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen."

Es wird also nur berichtet, was f�r den Glauben, der das Heil als Gnadengeschenk Gottes empf�ngt, notwendig ist � und keine zus�tzlichen neuen Offenbarungen. Wir denken hierbei insbesondere auch an den Schlu� der Bibel in Offb 22,18 f.:

"Ich bezeuge jedem, der die Worte der Weissagung dieses Buches h�rt: Wenn jemand zu diesen Dingen hinzuf�gt, so wird Gott ihm die Plagen hinzuf�gen, die in diesem Buch geschrieben sind. Und wenn jemand von den Worten des Buches dieser Weissagung wegnimmt, so wird Gott seinen Teil wegnehmen von dem Baum des Lebens und aus der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben ist."

Es ist also illegitim, etwas hinzuzuf�gen oder hinwegzunehmen, wie es die Katholische Kirche in Form ihrer Tradition tut.

E. Katholische Theologie und historisch-kritische Methode

Heute ist in der Katholischen Kirche die historisch-kritische Methode seit dem II. Vatikanischen Konzil anerkannt. Das war nicht immer so, hatte es doch noch im Antimodernisteneid aus dem Jahre 1910 gehei�en, dass eben dieser rationalistische Zugang zur Schrift zu verwerfen ist. Inzwischen hat man sich aber unter dem Druck des Zeitgeistes dem historisch-kritischen Denken in der Schriftfrage ge�ffnet.

Allerdings ist die Katholische Kirche insgesamt � zumindest von Rom her gesehen � doch noch konservativer als viele protestantische Exegeten, die hier manchmal kein Halten mehr kennen; man denke an Theologen wie Rudolf Bultmann, Gerd L�demann und andere. In der Katholischen Kirche h�lt man durchaus daran fest, dass die Heilige Schrift frei sei von Irrtum im Bezeugen jener Wahrheit, die Gott um unseres Heiles Willen aufgezeichnet hat. Aber es wird auch gesagt, dass die Verfasser "echte menschliche Verfasser" sind. "Ihre Aussageabsicht (ist) durch die Beachtung ihrer geschichtlichen Situation, der literarischen Art ihrer Darstellung und �berhaupt durch anerkannte exegetische Forschungsmethoden zu erarbeiten" (Neuner-Roos, S. 73).

Da die Katholische Kirche die Schrift nicht als absoluten und einzigen Ma�stab sieht, hat sie es relativ einfach, dass die historische Kritik ihr (der Kirche) keinen Schaden zuf�gt, indem sie sagt:

"Die �berlieferung ist Norm der Schrifterkl�rung" (ebd.).

Das hei�t, wenn die Schrift f�llt, bleibt der Katholischen Kirche immer noch die �berlieferung und das Lehramt. Das ist ihr Vorteil, den sie gegen�ber evangelischen Kirchen hat, die ja sagen �Allein die Schrift�. Und wenn die Schrift destruiert wird � auch nur versuchsweise -, schwimmen die Grundlagen davon. Die Katholische Kirche hat aber drei Standbeine und daher besitzt sie immer noch � auch wenn sie humpelt � eine gewisse Standfestigkeit.

Das Eindringen der historisch-kritischen Methode in die katholische Exegese begann beim II. Vatikanischen Konzil, etwa verlautbart in der Instruktion der p�pstlichen Bibelkommission vom 21. April 1964. Hier wird von der "Notwendigkeit der rationalen Hermeneutik" gesprochen und es wird ausgef�hrt:

"Wo es n�tig erscheint, darf der Ausleger fragen, welche gesunden Elemente die �formgeschichtliche Methode` enth�lt, die er zu einem volleren Verst�ndnis der Evangelien mit Recht ben�tzen k�nnte. Doch m�ge er dabei umsichtig vorgehen, da mit dieser Methode oft nicht zu billigende philosophische oder theologische Prinzipien offensichtlich verquickt sind, die sowohl die Methode, als auch die literarischen Schlu�folgerungen nicht selten verderben. Manche Vertreter dieser Methoden weigern sich n�mlich, durch vorgefa�te rationalistische Meinungen verf�hrt, die Existenz einer �bernat�rlichen Ordnung und das aufgrund von Offenbarungen im eigentlichen Sinne erfolgte Eingreifen eines pers�nlichen Gottes zu ber�cksichtigen" (Neuner-Roos Nr. 140).

Man ist also vorsichtiger. Ferner wird ausgef�hrt, dass alles angewandt werden kann, "was die allseits wohlbedachte historische Methode beibringt. Diese erforscht eifrig die Quellen und bestimmt ihre Eigenart und Tragweite; als Hilfsmittel bedient sie sich der Textkritik, der Literarkritik und der Sprachenkenntnis" (Neuner-Roos Nr. 139).

Die Entscheidung beim II. Vatikanum lautete also: Die historisch-kritische Methode ja, aber doch mit Vorsicht zu handhaben. Nat�rlich ist das eine gewisse Gummiformel, denn wo ist dann die Grenze, wo ist dann die rationalistische Wucherung und wo kann sie noch gestoppt werden? Ich denke, wenn ein Krebs erst einmal angefangen hat, ist es immer schwer, ihn noch zu stoppen, bildhaft gesprochen. Man kann ihn im Grunde genommen nur noch herausschneiden (s. hierzu ausf�hrlicher: Bibel; Bibelkritik). Auch wird gesagt:

"Die Wahrheit einer Erz�hlung wird n�mlich nicht im mindesten davon ber�hrt, da� die Evangelisten Worte und Taten des Herrn in verschiedener Reihenfolge berichten und seine Reden nicht wortw�rtlich, dennoch sinngem��, in verschiedener Weise zum Ausdruck bringen" (Neuner-Roos Nr. 143).

Das mag zum Teil verst�ndlich sein, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass die J�nger memoriert (sich ins Ged�chtnis eingepr�gt) haben, was Jesus gesagt hat. Dennoch ist hier eine gewisse �ffnung, dass vieles dann behauptet werden kann, vorhanden, wo man sagt: Nur "sinngem��" sei es �berliefert. Hingegen ist beim Memorieren gem�� rabbinischer Tradition durchaus von einem w�rtlichen Memorieren des Geh�rten auszugehen (vgl. z.B die Forschungen von Riesenfeld, Gerhardsson und Riesner).

F. Die Apokryphen

Dies ist der Begriff f�r die �verborgenen� B�cher. Die Apokryphen wurden von der R�misch-Katholischen Kirche im Tridentinischen Konzil ausdr�cklich als heilige Schriften bezeichnet und festgehalten im Gegensatz zu den Reformatoren, welche diese als zwar "n�tzlich und gut zu lesen", aber doch nicht der Heiligen Schrift gleichzuordnen bezeichnet hatten. Im r�misch-katholischen "Verzeichnis der heiligen B�cher" werden folgende aufgez�hlt:

"Aus dem Alten Testament: Die 5 B�cher Mosis, n�mlich Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium; Josua, Richter, Ruth, 4 B�cher der K�nige, 2 B�cher der Chronik, das erste Buch Esdras und das zweite, das Nehemias hei�t, Tobias, Judith, Esther, Job, Davids Psalmenbuch mit 150 Psalmen, Die Spr�che, der Prediger, das Hohelied, Weisheit, Ecclesiasticus, Isaias, Jeremias mit Baruch, Ezechiel, Daniel, die 12 kleinen Propheten, n�mlich Osea, Joel, Amos, Abdias, Jonas, Mich�as, Nahum, Habakuk, Sophonias, Agg�us, Zacharias, Malachias, 2 B�cher der Makkab�er, das erste und zweite." (Neuner-Roos Nr. 89; die von mir kursiv gesetzten B�cher sind Apokryphen; zu erg�nzen w�re noch Jesus Sirach).
Im Neuen Testament gibt es keine Apokryphen, die in die Bibel gelangt w�ren (s.o.). F�r die Katholische Kirche ist die Vulgata die ma�gebende Schriftausgabe, also die lateinische �bersetzung durch Hieronymus, und nicht der griechische und hebr�ische Urtext (Neuner-Roos Nr. 92).

In reformatorischer Sicht werden die kanonischen B�cher von den Apokryphen unterschieden. Die kanonischen B�cher sind von Gott inspiriert; sie allein sind Norm und Richtschnur unseres Glaubens. Bei den apokryphen B�chern ist aber ihr g�ttlicher Ursprung entweder zweifelhaft oder es ist erwiesen, da� kein solcher vorhanden ist. Es wird etwa am Anfang von Jesus Sirach ausdr�cklich festgestellt, dass hier menschliche �berzeugungen und Lebensweisheiten vorgestellt werden. So interessant und n�tzlich sie auch sind, aber sie haben keine letzte Autorit�t. Es fehlt bei den Apokryphen das innere Zeugnis des Heiligen Geistes, auch das Alter der Schrift und das Zur�ckgehen auf die �ltesten Traditionen. Die Apokryphen selber beanspruchen nicht, dass sie von Gott inspiriert seien. So hei�t es in 2. Makkab�er 15,38: "Ist sie (n�mlich die Zusammenfassung eines anderen) Werkes gut und geschickt erz�hlt, habe ich mein Ziel erreicht. Ist sie aber schlecht oder mittelm��ig, ich habe mein Bestes getan." So schreibt ein menschlicher Autor, aber niemals Gott. Und sogar die R�misch-Katholische Kirche hatte bis zum Konzil von Trient die Apokryphen nicht als dogmatisch inspiriert erkl�rt.

Warum aber h�lt die Katholische Kirche inzwischen ausgerechnet an den Apokryphen so eisern fest? Die Apokryphen enthalten wesentliche Irrlehren, die die Katholische Kirche vertritt.

Zu diesen Irrlehren geh�rt vor allem :

Solche Lehren also, die man findet oder auch herausliest aus gewissen Stellen, finden sich in den Apokryphen � und das kann nicht im Einklang stehen mit dem Wort Gottes, in welchem ja genau diese Dinge abgelehnt werden. Man denke etwa an das Verbot des Spiritismus, an die Erl�sung des S�nders allein aus Gnaden und an das Verbot abergl�ubischer Praktiken insgesamt.

Lothar Gassmann


Index

Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):

1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch

Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de