Seelsorge (Sorge an der Seele) als Teilgebiet der Praktischen Theologie ist heute ein ebenso umkämpftes Gebiet wie die Theologie insgesamt. Denn die heutige Seelsorge ist weithin nicht mehr vom biblisch-christlichen Menschenbild, sondern von unbiblischen Methoden der Pastoralpsychologie geprägt (Humanistische Psychologie). Das Ziel ist weithin nicht mehr die Hinführung des Menschen zu Gott, sondern die Selbstverwirklichung des Menschen. Die Heilung wird nicht mehr primär in der Heilung der Gottesbeziehung gesucht, sondern in der Entfaltung der "im Menschen liegenden Kraftpotentiale".
Damit ist der christlichen Seelsorge das Eigentliche verlorengegangen:
das Wort Gottes, das uns unverfügbar von außen trifft, das unseren von der Sünde gezeichneten Lebenszusammenhang radikal unterbricht und das allein uns von Grund auf verändern, heilen und erneuern kann. Nachfolgend entfalte ich in acht Thesen meine Kritik an der sog. Modernen Seelsorgebewegung oder Pastoralpsychologie.
"Eine der revolutionärsten Einsichten, die sich aus unserer klinischen Erfahrung entwickelt hat, ist die wachsende Erkenntnis: der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv - von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch. Dieser Standpunkt ist unserer gegenwärtigen Kultur so fremd, dass ich kaum mit Zustimmung rechne, und er ist in seinen Implikationen in der Tat so revolutionär, dass er ohne gründliche Überprüfung nicht akzeptiert werden sollte."
Diese Sätze schrieb Carl Rogers erstmals in einem Aufsatz aus dem Jahre 1953. Rogers selbst rechnete mit der Ablehnung durch die "Religion, vor allem die protestantische Tradition" wegen ihrer "Grundansicht (...), dass der Mensch im Wesen sündhaft ist", sowie durch "Freud und seine Jünger" wegen deren triebdeterministischem Menschenbild. Inzwischen ist jedoch die erstaunliche Situation eingetreten, dass Rogers` psychotherapeutische Ansichten (und damit unweigerlich auch sein Menschenbild) von der kirchlichen (vor allem von der protestantischen) Seelsorge weitgehend unkritisch übernommen worden sind und sich hier mit theologischen Begriffen verbunden haben. Neben dem Einfluss von Rogers wurden folgende Thesen von Cabot und Dicks für die "moderne Seelsorgebewegung" massgeblich: "Dem Menschen als einem Geschöpf Gottes wohnt grundsätzlich eine heilende Kraft inne: ´vis medicatrix dei` (...) Der Arzt und der Seelsorger sind selbständige Glieder des therapeutischen Teams. Sie verstehen sich vornehmlich als Handlanger dieser heilenden Kraft Gottes. (...) Ihre Kunst besteht darin, den Prozess verborgenen Wachstums (´growth`) zu erkennen und zu entdecken, wo das heilende Potential (´growing edge`) des Patienten hervorbrechen will und wo es zu hegen ist." Nach H. J. Thilo soll die Beratung dem Menschen helfen, "das zu werden, woraufhin er angelegt ist". – H. J. Clinebell schreibt: "Die beratende Seelsorge bezeugt, dass alles Heilen und Reifen von Gott kommt. Werden die von Gott geschenkten Heilkräfte, die im Innern des Menschen und in seinen mitmenschlichen Beziehungen liegen, nicht von dem befreit, was sie blockiert, kann ein Heilungsprozess nicht in Gang kommen. Der Berater ist der Katalysator in einem Vorgang, den er nicht hervorbringt, den er nur auslösen und fördern kann." Wenn von "Sünde" die Rede ist, dann nur in einer sehr eingeschränkten und verschwommenen Form: "Der Mensch" ist "Sünder (´sinful`) und Bild Gottes (´image of God`) zugleich" (Seelsorge Hiltner). Im Anschluss an W. E. Hulme spricht D. Stollberg von einer "Spaltung im Menschen, der ´gerecht und Sünder zugleich` ist. In der Einheit von Schöpfung und Erlösung vollzieht sich das ´innere Wachstum` (...) Seelsorge trägt bei zur Realisation der als Potenz vorhandenen Imago Dei, welche die Kluft zwischen protologischem Urstand, präsentischem Konflikt und eschatologischer Vollendung schließt."
In all diesen Aussagen wird entweder die Realität der >Sünde ganz geleugnet oder ihre Radikalität verharmlost:
Der Mensch sei "von Natur aus gut" oder in ihm wohne zumindest "ein guter Kern", ein "Rest der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit", den es zu entfalten und für die Heilung einzusetzen gelte. Eine geradezu mystisch anmutende Verbundenheit zwischen Göttlichem und Menschlichem kommt bei vielen dieser Autoren zum Ausdruck.
"Ich weiss, dass in mir, das heisst in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt"
betont demgegenüber Paulus (Röm 7,18).
"Gut ist nur einer"
nämlich Gott (Mt 19,17). Die ganze Bibel spricht von dem Graben zwischen Gott und dem Menschen, den die Sünde aufgerissen hat – und zwar gerade die Sünde des Strebens nach menschlicher Selbstverwirklichung, nach dem "Sein-Wollen-wie-Gott" (1 Mo 3,5)! Nicht die menschliche Selbstverwirklichung, die den Graben verursacht hat, kann ihn überbrücken, sondern allein die Sündenvergebung. Diese können wir uns aber niemals selber (auch nicht gegenseitig, auch nicht in der Gruppe) zusprechen, sondern sie kommt von außen: von dem einen und lebendigen Gott, der jenseits unserer Geschöpflichkeit und Gefallenheit steht und dem Glaubenden aus freiem Erbarmen die Versöhnung schenkt. Aus diesem Versöhntsein des Glaubenden (nicht des ungläubigen, "natürlichen" Menschen!) mit Gott erwächst die Kraft zu einem neuen Leben – zur Heilung, zur Heiligung und zum Heil. Nicht aus uns kommen die Kräfte hierzu, sondern von außerhalb, von Gott strömen sie in uns ein.
Ausgehend von dem Gedanken, dass Seelsorge auf Beichte, Umkehr und Sündenvergebung zielt, war Hans Asmussen zu folgender Definition gelangt:
"Seelsorge ist die Verkündigung des Wortes Gottes an den einzelnen".
In ihr wird "dem einzelnen auf seinen Kopf zu die Botschaft gesagt". "Wort Gottes kann nur verkündigend gesagt werden."
Ähnlich führt Eduard Thurneysen aus:
"Seelsorge findet sich in der Kirche vor als Ausrichtung des Wortes Gottes an den einzelnen."
"Seelsorge vollzieht sich in Gestalt eines Gespräches, das herkommt vom Worte Gottes und hinführt zu seiner Verkündigung in der Gemeinde."
"Weil das Seelsorgegespräch das ganze Feld des menschlichen Lebens mit allen darin wirksamen psychologischen, weltanschaulichen, soziologischen und moralischen Deutungen und Beurteilungen dem Urteile des Wortes Gottes unterstellt, darum geht durch das ganze Gespräch eine Bruchlinie, die anzeigt, dass das menschliche Urteilen und Bewerten und das ihm entsprechende Verhalten hier zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber dass es in seiner Vorläufigkeit erkannt ist. Da der Mensch sich diese Relativierung und damit gegebene Beschränkung seines natürlichen Urteiles nicht gefallen lässt, sondern sich dagegen zur Wehr setzt, wird das Seelsorgegespräch zum Kampfgespräch, in welchem um die Durchsetzung des Urteiles Gottes zum Heil des Menschen gerungen wird."
Gegen solche Aussagen meldete sich in der "praxisorientierten Seelsorge" und besonders in der "modernen Seelsorgebewegung" lebhafter Protest an. Joachim Scharfenberg warf der von Asmussen und Thurneysen geprägten Seelsorge einen "autoritären oder methodistischen Missbrauch der Sprache" vor. "Autoritär muss jede Gesprächsführung genannt werden, die das Gespräch nur dazu benutzen will, um etwas Vorgegebenes, an der Vergangenheit Orientiertes, Bekanntes und Verfügbares ´auszurichten`." An die Stelle der "Verkündigung" als "Zuspruch von etwas Festem, Unwandelbarem, objektiv Vorgegebenem" müsse das "Gespräch" treten, das durch "Offenheit, Zweideutigkeit", durch "bipolares, partnerschaftliches Hin und Her von menschlicher Rede" geprägt sei. Die Beichte, die im Gefolge der Reformatoren besonders Asmussen hervorhob, setze "eine bestimmte psychologische Situation [...] eines Menschen, der unter einem angefochtenen und verstörten Gewissen leide", voraus. Weil es fraglich sei, "ob diese psychologische Situation heute als Massenerscheinung noch gegeben sein kann", solle an ihre Stelle die "selbstkritische Gruppenaussprache" treten, "in der der einzelne bereit ist, seine eigenen Fehler und Vorurteile zuzugeben und in der Gemeinschaft zur Diskussion zu stellen". "An die Stelle der hierarchischen Struktur von Anweisung und Gehorsam ist damit die dialogisch-zirkelhafte Struktur des Verstehens getreten." Statt einer als "autoritär" angesehenen "Offenbarungstheologie" soll nun eine "Erfahrungstheologie" das Feld beherrschen.
"Erfahrung ist für mich die höchste Autorität."
Diesen Satz mit seinen Konsequenzen fanden wir bereits bei C. Rogers. Und W. Zijlstra schreibt in seinem Buch über das Clinical Pastoral Training (CPT): "Man könnte sagen, dass es im CPT eigentlich um eine moderne Form von ´Erfahrungstheologie` geht."
Hier werden wir konfrontiert mit einer letztlich immanentistischen (rein innerweltlichen) Seelsorge, die auch dann, wenn sie den Namen Gottes im Munde führt, im Grunde nur den Menschen meint. Dies hängt zusammen mit einer Vermenschlichung Gottes im Rahmen einer umgedeuteten Kondeszendenz- und Inkarnationstheologie (Mensch- und Fleischwerdung Gottes), die mit einer Vergöttlichung des Menschen (d.h. einer Umsprechung geschöpflich-sündhafter Kräfte zu angeblich gottgeschenkten Selbstheilungskräften) einhergeht. Zu solchen Ansichten kann nur der kommen, der den Graben der Sünde übersieht oder verharmlost. Eine mit der Wirklichkeit der Sünde rechnende Seelsorge hingegen kann auf die Verkündigung des Wortes Gottes nicht verzichten. Nur das von außen kommende Wort Gottes kann Sünde als Sünde entlarven – gerade die Sünde, dass der Mensch auf seine mutmaßlichen Selbstheilungskräfte vertraut, dabei dem wirklichen Gott nichts zutraut und im Streben nach Selbsterlösung endet. Nur wo uns das göttliche Wort trifft und uns in unserem menschlichen Selbstbezug (als einzelner oder in der Gruppe) radikal unterbricht, wird Sünde in ihrer unergründlichen Tiefe und Hässlichkeit erkannt und im Bekennen vergeben. Nur wer sich dem – oft schmerzlichen, aber heilenden – Anruf Gottes stellt, wird wahrhaft frei.
Jede Heilung in der Seelsorge setzt die Heilung der Gottesbeziehung voraus. Die Gottesbeziehung wurde durch das Kreuzesopfer Jesu wiederhergestellt. Die Annahme des Kreuzesopfers Jesu geschieht im Glauben.
"Der Glaube kommt aus der Predigt, die Predigt aber durch das Wort Christi" (Röm 10,17).
Wir entdecken hier eine "Kette" mit den Gliedern:
Heilung- Gottesbeziehung – Kreuzesopfer Jesu – Glauben – Predigt - Wort Christi. Keines dieser Glieder darf fehlen.
Das Kreuzesopfer Jesu und der Glaube stehen im Zentrum. Die Heilung geht auf das Wort Christi zurück, das durch die Predigt (wörtlich: das Hören) dem Glaubenden vermittelt wird. Somit ist das Wort Christi (oder Wort Gottes) für die Seelsorge unverzichtbar, und zwar das Wort, das hörbar in Form der Verkündigung zugesprochen wird. Wird das Wort nicht hörbar zugesprochen, sondern nur "gelebt" bzw. auf nonverbale oder beziehungsimmanente Art mitgeteilt, so bleibt es vieldeutig, sprachlos und in seiner Sprachlosigkeit heillos Es kann den in der Sünde gefangenen Menschen nicht zu einem neuen Leben im Glauben herausrufen, sondern höchstens ein Gefühl mitmenschlicher Wärme und religiösen Ahnens in ihm wachrufen. Gottes Wort muss dem Menschen also in Predigt und Seelsorge hörbar zugesprochen werden. Es muss ihm unüberhörbar zugesprochen werden in Wort und Tat, aber nie ohne das Wort. Wortlose Seelsorge ist heillose Seelsorge, weil sie vor dem Heiland, der im Wort zu uns kommen will, das Ohr – und damit das Herz – zusperrt.
Seelsorge unter Gottes Wort ist schließlich nie autoritär, weil sich beide – Seelsorger und Klient – unter Gott beugen. Die einzige – und notwendige - Autorität, die zum Zuge kommen soll und darf, ist die Autorität Gottes, des wahren Seelsorgers. Menschliche und göttliche Autorität sind klar zu unterscheiden. H. Asmussen betont:
"Man hat häufig dem Seelsorger vorgeworfen, er behandle die Menschen ´von oben herab`. [...] Selbst wenn der Seelsorger der demütigste Mensch ist, den man sich denken kann, ist er gar nicht imstande, seinen Auftrag etwa nicht ´von oben her` auszurichten. Welches Interesse sollte er daran haben, zu verschweigen, dass sein Auftrag von oben herkommt, dass dieser Auftrag gewaltig den ganzen Menschen mit Beschlag belegt? Seine Demut bleibe mit dem Auftrag unvermengt!"
E. Thurneysen schreibt:
"Die Verkündigung komme [...] ganz von oben und gehe ganz nach unten und führe wieder empor nach oben."
Beim seelsorgerlichen Gespräch geht es
"um eine Begegnung unter Menschen vor Gott. Wobei einer dem andern sich eröffnet, einer dem andern Gottes Wort ausrichtet und einer dem andern zum Nächsten wird. Und damit zum Helfer!"
"Man darf (...) den Menschen in seiner subjektiven Verfassung in keiner Weise außer acht lassen, wenn man ihm Zuspruch geben will. Nicht nur das Wort Gottes, sondern auch der Mensch muss eine Auslegung erfahren"
– eben beide (s)! Und daraus folgt, dass dem Menschen das Wort Gottes nicht suggestiv und aufdringlich, sondern einfühlsam und liebevoll zum rechten Zeitpunkt gesagt wird. Aber dass es wirklich gesagt wird! Denn sein Verschweigen wäre gerade kein Zeichen der Liebe.
Wie auf vielen Gebieten, so ist auch auf dem Gebiet der Seelsorge eine heillose Begriffsverwirrung eingetreten. Nicht nur der Unterschied zwischen Beraten und Bezeugen wird verwischt, sondern auch diese Begriffe selbst werden ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdet (letzteres ist die Voraussetzung für ersteres).´"Beraten" soll in der pastoralpsychologisch geprägten "beratenden Seelsorge" gerade nicht mehr heißen, dass dem Menschen von außen her ein Wort oder Ratschlag zugesprochen wird. Vielmehr soll der Berater "Katalysator" sein, um die "im Innern des Menschen und in seinen mitmenschlichen Beziehungen" liegenden Heilkräfte zu befreien. W. Jentsch zitiert den seiner Ansicht nach "fast grotesken Satz: Die beratende Seelsorge berät nicht!" Im Rahmen eines Vergleichs zwischen "modernem" und biblischem Beratungsbegriff gelangt Jentsch zu der Feststellung: "Der Vorgang des ´Beratens` im modernen Sinn findet in der Wortgruppe ´raten/Rat` (griech.: buleuo/bule) keinen Niederschlag. Nur das Medium im Sinne von ´mit sich zu Rate gehen` (Lk 14,31) kommt vor." Grundsätzlich gilt in biblischer Sicht: "[...] an Gott findet der Mensch die Grenzen seines Beratens [...] Gott hat das eigentliche Monopol der Beratung." In der heutigen "beratenden Seelsorge" ging diese entscheidende transzendente Dimension (die Dimension des von außen in unser Leben eingreifenden und es verändernden Ratschlusses Gottes) verloren.
Eine ähnliche Entleerung erfuhr der Begriff "Bezeugen".
"Die beratende Seelsorge bezeugt, dass alles Heilen und Reifen von Gott kommt",
schreibt H. J. Clinebell. Dann aber ist nur noch von Heilkräften die Rede, "die im Innern des Menschen und in seinen mitmenschlichen Beziehungen liegen" (s.o.).
H. Tacke bemerkt kritisch hierzu:
"Die Funktion des Bezeugens der von Gott gewirkten Heilkraft scheint zunächst in die Richtung einer kerygmatischen Intention zu weisen. Das Spezifische dieses Bezeugens liegt allerdings darin, dass es weniger verkündigend als deutend in Erscheinung tritt. Die im Menschen verborgenen Heilkräfte bilden das eigentliche Bezugs- und Bewährungsfeld der Seelsorge, die sich mit katalysatorischen Wirkungen den immanenten therapeutischen Reserven zuwendet. Das begleitende Bezeugen, mag es auch verbal zur Geltung kommen, ist ein ´Deutewort`. Es deklariert den seelsorgerlichen Prozess, der im Innern des Menschen verankert ist, als Kraft und Gabe Gottes."
"Bezeugen" ist hier also nur noch "Deutewort", nur noch Außenansicht für das, was durch das "Beraten" im (nicht: am) Klienten selber geschieht. Alles spielt sich auf immanenter Ebene ab, alles bleibt im Klienten "stecken". Beraten und Bezeugen verlieren hier ihre eigentliche Dimension und werden fast ununterscheidbar, weil sich das "Beraten" auf keine von außen kommende Kraft und das "Bezeugen" auf keinen von außen kommenden Spender dieser Kraft bezieht. Doch die Begriffsverwirrung durch die Pastoralpsychologie geht noch weiter:
Nach H. J. Clinebell "soll die Beratung erreichen, dass der Mensch tüchtiger darin wird, vertrauensvoll, liebend und schöpferisch mit anderen und mit Gott zu kommunizieren". Die "von Gott geschenkten Heilkräfte, die im Innern des Menschen und in seinen mitmenschlichen Beziehungen liegen", sollen von dem "befreit" werden, "was sie blockiert". Der Berater ist "Katalysator", Annahme und Agape sind "Techniken", Bibel, Sakramente, Gebet und christliche Tradition sind die "religiösen Kraftquellen" zur Freisetzung dieser Heilkräfte. Der "Glaube" ist "das Zutrauen, das im anderen entsteht, wenn ein tiefes Einvernehmen (rapport) zwischen beiden [Berater und Klient] erwächst, wie es im Wirkungsfeld akzeptierender Liebe gedeiht". Seward Hiltner möchte die drei klassischen Formen kirchlicher Seelsorge – Erbauung, Tröstung und Kirchenzucht – durch die "Trias Heilen – Beistehen – Leiten" ersetzen: "Heilen wird (...) als Vorgang der Wiederherstellung einer vorläufig gestörten ´funktionalen Ganzheit` verstanden", und zwar durch eine "ganzheitliche Therapie". -"Beistehen" ist "solidarischer Beistand angesichts der Ausweglosigkeit, in welcher alle Worte versagen". Ihr Sinn liegt im "Stiften von Hoffnung". – "Leiten (...) ist nicht Führen (...) Es ´hilft heraus`, und zwar im Hinblick auf ´etwas`, was potentiell im Partner steckt." – "Motiv dieser Seelsorge ist die Mobilisierung von Selbstvertrauen angesichts von Ängstlichkeit, Entschlusslosigkeit und Verzagtheit." "Als allgemeinmenschliche Erscheinung lässt sich Seelsorge auch definieren als zwischenmenschliche Hilfe mit seelischen Mitteln", als "therapeutische Kommunikationsform" mit besonderer "Affinität zum Gespräch", schreibt Dietrich Stollberg. Bezogen auf ihr "spezifisches Proprium" ist "Seelsorge [...] Psychotherapie im kirchlichen Kontext". "Indem Gott in dieser Welt menschlich präsent wird, kann alle zwischenmenschliche Hilfe als Medium der Hilfe Gottes verstanden werden."
Wie anders lauten hier doch die Aussagen der Bibel selbst! Glaube ist kein "Zentrum", das durch zwischenmenschliche Annahme "im anderen entsteht", sondern "Gottes Werk" (Joh 6,29), eine "Frucht des Geistes" (Gal 5,22), die uns im Hören auf Gottes Wort geschenkt wird (Röm 10,17). Im Licht des Glaubens erkennen wir unsere Sünde und Verlorenheit und den, der uns daraus erretten kann:
Jesus Christus (Joh 3,16). Glauben heisst, dass ich mich völlig auf Jesus verlasse, dass ich ganz in Verbindung mit Jesus lebe und daraus die Kraft bekomme, meinen Nächsten anzunehmen (nicht umgekehrt!). Zwischenmenschliche Annahme in der Kraft Jesu ist etwas völlig anderes als zwischenmenschliche Annahme ohne Jesus. Denn allein Jesus kann unser durch die Sünde bedingtes "Verkrümmtsein in uns selbst" (Luther) aufsprengen und Gemeinschaft schenken, in der keiner den anderen verletzt und manipuliert. Die Herzen werden zusammengefügt, aber nicht durch Technik, sondern durch die göttliche Liebe (Agape), die Kraft schenkt, auch den Feind und den Unsympathischen zu lieben. Auch Liebe aus göttlicher Kraft heraus (Agape) ist etwas völlig anderes als Liebe aus rein menschlicher Kraft heraus (Eros und Philia). Während Eros und Philia durch das Streben des Menschen nach Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung geprägt und damit letztlich egoistisch sind, ist Agape die auswählende, tätige und treue Liebe, die sich dem anderen bedingungslos schenkt. Solche Liebe, die für die Seelsorge entscheidend ist, kommt von Gott (1 Joh 4,7).
Sie ist eine
"Frucht des Geistes" (Gal 5,22)
und Folge des
"Glaubens, der durch die Liebe tätig ist" (Gal 5,6).
Hans-Joachim Thilo schreibt:
"Eine Theologie der Inkarnation oder Inkarnation als Ort, besser gesagt als Ausgangspunkt theologischer Erwägung, würde zu einem neuen Verständnis dessen führen, was der Mensch ist. [...] Alle Begriffe von Inkarnation beinhalten die eine Aussage: Gott wird sichtbar, fassbar, schaubar, aber auch real in dem Symbol bzw. in dem Bild, in dem er sich inkarniert. Inkarnation ist keineswegs ein christlicher Begriff, aber in keiner anderen Inkarnationsreligion ist so entscheidend formuliert worden, wie es im Neuen Testament geschieht: Gott ist Mensch geworden. [...] Gott begegnet uns als ´ganz gewöhnlicher Mensch`. [...] Gott erlebt man also in der Begegnung mit den Menschen [...] Wenn wir also vom Ort der Theologie reden, können wir nun im Hinblick auf den logos Gottes den Menschen in seiner alltäglichen Existenz als diesen Ort bezeichnen. Es ist also nicht die Frage nach dem Glaubensobjekt, die im Vordergrund unseres theologischen Interesses steht [...] Von hier aus, nämlich von einem ontologischen, existentialen Menschenverständnis, wird das Neue Testament für den heutigen Menschen wieder verständlich gemacht werden können."
Ähnlich formuliert Dietrich Stollberg:
"Denn wie wir Gott nur als Menschen ´haben` – ohne dass er selbst im Menschsein aufginge -, so ist uns Theologie nur als Anthropologie möglich bzw. als Erfassen der theologischen Dimension allgemein wahrnehmbarer ´immanenter`, ´säkularer` Phänomene." "Indem Gott in dieser Welt menschlich präsent wird, kann alle zwischenmenschliche Hilfe als Medium der Hilfe Gottes verstanden werden. Damit wird ihre Unvollkommenheit erträglich: Einerseits ist sie ja nur menschliche Hilfe, relativ und überholbar, weil Gottes Hilfe sie relativiert, andererseits verbirgt sich in all ihrer Unvollkommenheit Gott selber, er lässt Unvollkommenes unvollkommen sein, nimmt die Welt so an, wie sie ist, und die Seelsorge so, wie wir [!] sie vermögen. (Theologia incarnationis, Kenosistheologie, Kondeszendenz)."
Welches Verständnis von Kondeszendenz und Inkarnation liegt solchen Aussagen zugrunde? Wir müssen es deutlich aussprechen: Es ist nicht das biblische, sondern das >mystische Verständnis. Es ist die Vorstellung, dass Gott in jedem Menschen lebe, dass in jedem Menschen etwas Göttliches sei, dass man deshalb Gott "in der Begegnung mit den Menschen" erlebe. "Inkarnation ist keineswegs ein christlicher Begriff", bemerkt Thilo selber. Nur sei eben die Menschwerdung Gottes "in keiner anderen Inkarnationsreligion [...] so entscheidend formuliert worden" wie im Christentum (s. o.).
"In der Begegnung mit eben diesem Jesus von Nazareth als dem geistlichen Menschen, als dem Menschen von oben, als dem Urtyp des Menschen, so wie ihn Gott gewollt hat, gelingt und ereignet sich die Begegnung mit Gott. Aus ihm kommt als Frucht methodischer, erlernbarer Erfahrung das, was Paul Tillich das ´neue Sein` nennt."
An der Person Jesu als "Urtyp des Menschen" lasse sich also besonders eindrücklich lernen, wie die Begegnung des Menschen mit Gott (anders ausgedrückt: die Inkarnation Gottes im Menschen) funktioniere bzw. wie der Mensch das werden kann, "woraufhin er angelegt ist". Hier büßt Jesus seine Einzigartigkeit als Sohn Gottes ein und wird "Platzhalter" für die Selbstverwirklichung des Menschen. Die Inkarnation Jesu wird verallgemeinert. Ein inklusives Menschsein Jesu, ein Hineingenommensein aller Menschen in seine Person wird postuliert (vgl. Thilos Nebeneinanderstellung der Sätze "Gott begegnet uns als ´ganz gewöhnlicher Mensch`", womit er auf die Menschwerdung Jesu Bezug nimmt, und "Gott erlebt man also in der Begegnung mit den [!] Menschen", womit er die Menschwerdung Jesu verallgemeinert). Der Mensch (jeder Mensch) wird hier zum "Text", an dem man Gott und sein Wirken erkennen kann.
Eine solche Argumentation ist aus biblischer Sicht unhaltbar. Der Grundirrtum liegt wiederum darin, dass man den Graben übersieht oder verharmlost, den die Sünde zwischen Gott und Mensch aufgerissen hat (s. o.). Wo aber die Sünde nicht klar erkannt wird, da erscheint die Erlöserfunktion Jesu überflüssig oder zweitrangig. Da ist Jesus nur noch das "Urbild" des (angeblich von Natur aus mit Gott verbundenen) Menschen ("Urbildchristologie"), ein "Symbol" oder "Bild", in dem sich Gott inkarniert (H. J. Thilo), ein "Symbol des Selbst" (C. G. Jung). Mit einer so verstandenen "Kenosistheologie" ist die verhängnisvollste Entleerung der biblischen Botschaft eingetreten: die Preisgabe der Rechtfertigungslehre und der Ausfall der biblischen Christologie. Der Ausfall der Christologie erfolgt nicht erst dann, wenn Christus verschwiegen wird, sondern bereits dann, wenn seine Person und sein Werk verkürzt und damit verfälscht werden. Christus wird nur in der ganzen Fülle seiner Macht als Christus erkannt – oder er wird gar nicht erkannt. Christus ist nicht nur wahrer Mensch, sondern auch wahrer Gott (Konzil von Chalkedon, 451; s. Röm 1,3f., Joh 1 u. a.) und hat dadurch die Kraft, uns zu erlösen. Wird das nicht beachtet, dann droht die Auflösung Gottes in ein mitmenschliches Existential und die Auflösung der Theologie in Anthropologie. Hierin liegt die Gefahr einer existentialistisch-ontologischen Bibelauslegung (etwa im Gefolge der Bultmann-Schule), die Thilo, Stollberg u. a. übernehmen.
Christi Annahme der menschlichen Natur (assumptio carnis) ist klar zu unterscheiden von Gottes Annahme des Menschen (acceptatio hominis), die wegen Christus durch den Glauben (propter Christum per fidem) erfolgt. Die Menschwerdung Gottes in Jesus bedeutet keine Gottwerdung des Menschen allgemein, sondern führt zur Erkenntnis der menschlichen Gottverlassenheit und Erlösungsbedürftigkeit
Vgl. Jesu stellvertretenden Ausruf
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"; Mt 27,46
Allein in Jesus Christus ist die durch die Sünde verwirkte Gottebenbildlichkeit des Menschen neu verwirklicht und wird dem Glaubenden rettend angeboten (2 Kor 4,4; Kol 1,15). Lebt nicht "Christus in mir" (Gal 2,20), dann bin ich nicht ein "Text" für Gott und sein Heilswerk, sondern für Satan und sein Blendwerk. Hier gibt es keine Neutralität.
"So ist der menschliche Wille in der Mitte hingestellt wie ein Lasttier; wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will. [...] Wenn der Satan darauf sitzt, will er und geht, wohin Satan will" (Martin Luther).
Gott in biblischer Sicht ist ein Gott, der in die Immanenz eingeht, aber nicht in ihr aufgeht, der bei allem, was er tut, der lebendige und souveräne Gott bleibt, der der liebende, aber auch – und gerade darin – der heilige und gerechte Gott ist, der sich offenbart, wie und wann er will und sich nicht menschlichen Maßstäben und Wunschvorstellungen unterwirft. An seine Stelle tritt bei Stollberg ein Gott der "absoluten Liebe", "der keine Bedingungen stellt", der uns nicht nur "die Nähe seiner Menschwerdung" und "brüderliche Solidarität", sondern sogar den "Verzicht auf Macht uns gegenüber" anbietet. Seine "Jenseitigkeit" in ethischer Hinsicht besteht darin, dass er "jenseits unserer Moralvorstellungen" steht und die "Relativität aller Normen und Ordnungen" bezeugt, auch die Relativität "für göttlich gehaltener Bedingungen". Sein Gesetz ist lediglich "´Laufstall` für Kinder" und wird "irgendwann überschritten". Es ist "so zu vermitteln, dass es nicht das Kind-bleiben-Wollen verfestigt, sondern dass es anleitet zu selbständiger und schöpferischer Verantwortung".
"Seelsorge ist (...) antimoralistisch (...) ´amoralisch` (nicht ´wertfrei`, aber nicht wertend) und tolerant (antigesetzlich)",
schreibt Stollberg weiter.
Untersucht man seine Aussagen genauer, dann fällt eine mangelhafte Unterscheidung auf zwischen dem Setzen göttlicher Gebote einerseits und dem sündigen Streben des Menschen, sich mittels Einhaltung dieser Gebote selbst zu erlösen, andererseits. Das Gebot ist in neutestamentlicher Sicht "heilig, recht und gut" (Röm 7,12). Jede Werkgerechtigkeit und Moralisiererei jedoch, durch die sich der Mensch selbst erlösen will, ist ein Missbrauch des Gebots. Das Gebot selber bleibt trotz dieser Gefahr des Missbrauchs "heilig, recht und gut" – ja noch mehr: Es bleibt wegen seines göttlichen Offenbarungscharakters und seiner ordnenden Funktion gültig, solange die Erde steht. Wer nicht beachtet, dass das göttliche Gebot eine grundsätzlich andere Qualität hat als menschliche Moralvorschriften (oder auch menschliche Verdrehungen des göttlichen Gebots), kommt zu verhängnisvollen Fehlschlüssen. Das grundsätzlich gute göttliche Gebot ist von seinem menschlich-sündhaften Missbrauch zu unterscheiden. Martin Luther hat sich gegen die "Antinomer" (Gesetzesfeinde) genauso deutlich gewandt wie gegen die Moralisierer oder "Werker". Die Gebote sind nicht nur "´Laufstall` für Kinder" (Stollberg), sondern wegen unserer irdischen Schwäche und Unvollkommenheit (auch des Christen!) das ganze Leben gültig – und zwar als Riegel (gegen die Ungerechtigkeit), Spiegel (der Sünde) und Regel (für das Christenleben) (primus, secundus et tertius usus legis). Für den Christen haben sie freilich (wie auch Stollberg im Blick auf den tertius usus zu Recht betont) nicht mehr imperativischen, sondern indikativischen Charakter: Weil Jesus uns vergeben hat, können wir ein neues Leben führen. Nur in diesem indikativischen Charakter entsprechen sie der vom Leistungszwang (auch vom geistlichen Leistungszwang) freimachenden Botschaft Jesu: dem Evangelium. Das ganze Leben aber bleibt die Spannungseinheit von Gesetz und Evangelium erhalten.
"Indem er heimkehrt, kommt er auch zu sich selbst. Indem er zu sich kommt, kehrt er auch heim", so zitiert R. Riess Seelsorge Hiltners Auffassung über die Heimkehr des verlorenen Sohnes (Lk 15) ins Vaterhaus. "Unter einem Nächsten verstehen wir denjenigen, mit dem und durch den wir uns selber kennenlernen, an dem wir wir selbst werden können: der Helfer, der Bundesgenosse", so lautet W. Zijlstras Auffassung über die Funktion des Nächsten. Und C. Rogers schreibt: Ich werde "meinem Klienten ein Weggefährte sein; ich begleite ihn auf der beängstigenden Suche nach sich selbst."
In der "modernen Seelsorgebewegung" hat die Suche nach dem Selbst die Suche nach Gott verdrängt. Ist von Gott oder Christus die Rede, dann als "Symbol des Selbst", als psychologisch gedeutete Chiffre, als Mittel zur menschlichen Selbstverwirklichung. Das Selbst – und das heisst: der Mensch – hat die Stelle Gottes eingenommen. Das aufklärerische Streben nach Autonomie ist vollends zum Durchbruch gelangt. Eine Seelsorge aber, die das Selbst des Menschen in den Mittelpunkt stellt, die dabei den Graben der Sünde und die erlösende Funktion Christi übersieht, hat sich als Seelsorge selbst aufgegeben und ihre Kraftquelle verloren. Daraus ergibt sich unser letzter, mit dem eben Gesagten direkt zusammenhängender Kritikpunkt an der Modernen Seelsorgebewegung oder Pastoralpsychologie:
Nach Auffassung der "modernen Seelsorgebewegung" erringt der Mensch Heil für sich selbst aus sich selbst. Damit jedoch befindet er sich in einem Zirkel. Denn wie kann der Mensch aus sich selbst gewinnen, was er für sich selbst sucht? Die Potentiale des Selbst sind nicht nur verschüttet, sondern verdorben – von der Sünde verdorben. Setzt der Mensch seine eigenen Potentiale frei, dann setzt er die in ihm wohnenden Kräfte der Sünde frei, die sich z. B. in Form von Hochmut und Selbststeigerungsstreben als solche verraten. Gerade das Streben nach menschlicher Selbstverwirklichung nämlich - nach autonomer, selbstbestimmender Selbstverwirklichung – ist die eigentliche Sünde, die Ursünde des Menschen. "Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist" (1 Mo 3,5) heisst nichts anderes als: Ihr werdet euch selbst verwirklichen. Auch in der menschlichen Selbstverwirklichung wohnt eine Kraft. Aber es ist nicht die Kraft Gottes, weil sich die Selbstverwirklichung ja gegen Gott richtet. Es ist die Kraft des Verführers. Auch wenn diese Kraft zu einer "von Gott geschenkten Heilkraft" umgesprochen wird, so bleibt sie doch die Kraft des Verführers, wo sie der menschlichen Selbstverwirklichung dient. Auch wenn der Berater als "Katalysator", auch wenn Bibel, Gebet, Liturgie, Sakramente usw. als "Quellen" dieser Kraft bezeichnet werden, so stehen sie doch nicht im Dienst Gottes, sondern des Verführers, wo sie der menschlichen Selbstverwirklichung dienen. Auch wenn das gesamte biblische und theologische Vokabular (Gott, Christus, Gnade, Glaube, Liebe usw.) aufgeboten wird, so steht es doch nicht im Dienst Gottes, sondern des Verführers, wo es der menschlichen Selbstverwirklichung dient. Die Kraft des Verführers aber macht uns nicht heil, sondern kraftlos: Sie entzieht uns Kraft, indem sie uns bindet (an Menschen, Gruppen, Ideologien). Sie entzieht uns Kraft, indem sie uns (vielleicht durch äussere Heilerfolge, die wir unseren eigenen Potentialen zuschreiben) so blendet, dass wir die eigentliche Wurzel der Krankheit – unsere Trennung von Gott – übersehen. Sie entzieht uns Kraft, indem sie uns so von der wahren Kraftquelle – von Gott – fortbringt. So werden wir letztlich schwächer und kränker als zuvor – und heillos.
Es gibt keinen Zweifel: Die Seelsorge befindet sich in einer Krise. Es ist die Krise des neuzeitlichen Menschen, der Gott entthronen wollte und nun mit Pflästerchen die Wunde seiner Gottesferne und Verlorenheit zu verbinden versucht. Diese Krise hat voll auf das Gebiet der Seelsorge und der gesamten Theologie übergegriffen. Inmitten dieser Krise wird der Ruf nach dem "Eigentlichen", nach dem Proprium der Seelsorge und der Theologie immer lauter. Dieses "Eigentliche" ist uns in der Bibel offenbart. Gott will wieder ernstgenommen werden, und zwar in seiner Liebe und in seiner Freiheit. Der Mensch will wieder ernstgenommen werden, und zwar in seiner Sünde und in seiner Erlösungsbedürftigkeit. Nur wenn wir Gott Gott und den Menschen Mensch sein lassen, ist die Heiligkeit Gottes und das Heil des Menschen gewahrt. Nur wenn wir die – souveräne – Menschwerdung Gottes nicht zu einer Gottwerdung des Menschen verkehren, bringt uns die – einzigartige – Menschwerdung Gottes in Jesus Christus die Erlösung. Die Gottwerdung des Menschen wäre der Weg der Selbsterhöhung, die Menschwerdung Gottes aber ist der Weg der Selbsterniedrigung, der sich im Leiden und in der Kreuzigung fortsetzt und erst durch die Auferstehung – aber dann erst recht – als Weg des Heils erkennbar wird. Auch hier gilt: "Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht" (Mt 23,12) – ein für das Selbstverwirklichungsdenken des Menschen unvorstellbarer Satz!
Viele fordern inzwischen die Umkehr der Seelsorge und Theologie zu den biblischen Grundlagen. Einer davon ist Thomas C. Oden, der früher selbst ein Anhänger der Rogers-Schule war. Nach seiner Ansicht hat die "moderne Seelsorge" die Freiheit aufgegeben, von den klassischen, stärker biblisch orientierten Seelsorgekonzeptionen zu lernen. Oden schreibt: "Vielleicht kämpft man in der europäischen Seelsorge dafür, dass dem Seelsorger mehr Freiheit für Gefühle und Selbstverwirklichung zugestanden wird. Unsere Lage in den USA ist da ganz anders. Wir versuchen, uns von einer anderen Tyrannei freizumachen: von der Überflutung durch Gefühle und dem Mythos der Selbstverwirklichung [...] Es stellt einen Rückgang von Freiheit im seelsorgerlichen Gespräch dar, nicht einen Zuwachs an Freiheit. Denn wenn seelsorgerliche Interaktion sich ausschließlich auf den Brennpunkt ´ich` – ´hier` – ´jetzt` – ´nur Gefühle` usw. beschränkt, kann Seelsorge nicht ihr eigenes Wort sprechen. Uns scheint es viel angemessener, zu betonen, dass wir zur Zeit eine neue Freiheit darin erleben, Seelsorge unmittelbar vom historischen Kern der lebendigen christlichen Tradition zu lernen."
Oden untersucht dann zehn repräsentative Autoren der "modernen Seelsorgebewegung" (Hiltner, Clinebell, Oates, Natale, Stollberg, Tournier, Scharfenberg, Goldbrunner, Nuttin, Choisy) hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf klassische Seelsorgekonzeptionen (Augustin, Baxter, Calvin, Chrysostomos, Cyprian, Gregor, Herbert, Luther, Taylor, Tertullian) und auf Konzeptionen, die von zeitgenössischen Psychotherapeuten (Freud, Jung, Rogers, Fromm, Sullivan, Berne) geprägt sind. "Das Ergebnis: bei allen zehn repräsentativen zeitgenössischen Verfassern konnte ich nicht ein einziges Zitat bzw. eine Bezugnahme auf irgendeinen der genannten Klassiker finden! (...) Dieselben modernen Autoren der christlichen Seelsorge bringen 664 Bezugnahmen auf die genannten sechs Psychotherapeuten, die sie überwiegend als Autoritäten für christliche Seelsorge betrachten. (...) Die neuere Seelsorge hat sich dermaßen in eine fixierte Abhängigkeit und Verpflichtung gegenüber der modernen Psychologie und dem allgemeinen Zeitgeist begeben, dass sie außerstande war, auch nur der Fülle der Weisheiten vormoderner Zeiten, einschließlich der seelsorgerlichen Weisheiten, ansichtig zu werden." Trotz allem schließt Oden mit einem hoffnungsvollen Ausblick: "Durch Gnade sind wir heute von einem neuen Geist pastoraler Freiheit bewegt, wie man ihn in den vergangenen Jahrzehnten kaum hat erleben können: der Freiheit, in die Fußspuren der großen Seelsorgetradition zu treten, sie überhaupt wieder wahrzunehmen und sie in uns aufzunehmen. Das ist unsere neue Freiheit zu lernen. Die Risiken dieser Freiheit sind dieselben, wie sie ein Jeremia, ein Paulus, Cyprian, Ambrosius, Franziskus, Luther und Kierkegaard eingingen: Glauben an Gottes Vorsehung und Führung, Liebe zu den Menschen, die wir in Not sehen, so, wie Gott uns in unserer Not geliebt hat, und Hoffnung auf Vollendung, wenn nicht in unserer, dann zu Gottes Zeit."
Der Geist, der uns den Menschen als lebendiges Wesen in seiner Ganzheit erkennen lässt, ist Gottes Geist. Nur in der Beziehung zu Gott erkennen wir, wer wir wirklich sind: als Gottes Gegenüber geschaffene, durch die Sünde von Gott getrennte, durch Jesus Christus mit Gott versöhnte und zur Wiedererlangung der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit bestimmte Menschen; Menschen, die nicht Leib, Seele und Geist haben (griechische Philosophie), sondern Leib, Seele und Geist (unter je anderem Aspekt gesehen) sind (biblische >Anthropologie), und zwar in einer unteilbaren Einheit, die sich z. B. in Form der leiblichen Auferstehung fortsetzt (im Unterschied z. B. zum frühgriechischen Leib-Seele-Dualismus). In der Bibel ist uns in vollkommener Weise und in unübertroffenem Realismus offenbart, wer der Mensch ist – in vollkommenerer Weise als in allen psychologischen und soziologischen Systemen, die immer nur Teilaspekte des Menschseins erfassen und sich deshalb auch untereinander vielfach widersprechen.
Nun fragen wir abschließend nach dem Verhältnis zwischen Seelsorge und Humanwissenschaften. Nach dem bisher Dargestellten wird deutlich, dass humanwissenschaftliche (hier: psychologische und soziologische) Systeme nie als Ganzes in die Seelsorge übernommen werden können, da sie wegen ihres ideologischen Charakters mit der biblischen Offenbarung in Konkurrenz treten würden. Ideologien werden "von unten nach oben" von Menschen aufgebaut; die biblische Offenbarung wird "von oben nach unten" dem Menschen von Gott geschenkt. Beide Wege sind miteinander unvereinbar, denn der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung (Selbstverwirklichung) begegnet uns auch hier, und zwar auf die Erkenntnisebene verschoben. Es ist der Gegensatz zwischen menschlich-autonomem Erkenntnisstreben und göttlich-gnädig gewirkter Offenbarungserkenntnis.
Nun ist der menschliche Geist freilich nicht zerstört, sondern "verfinstert", d.h., dem "natürlichen" Menschen ist eine eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit im "natürlichen" Bereich belassen. damit er auch in seinem "gefallenen" Zustand auf Erden leben und überleben kann. (Aber eine eindeutige, letztgültige und – vor allem - heilschaffende Erkenntnis Gottes und seiner selbst ist dem Menschen aus eigener Kraft nicht möglich.) Diese "natürliche" Erkenntnisfähigkeit genügt durchaus, um Einzelbeobachtungen über Verhalten, Äußerungen, Sprache usw. des Menschen zu machen (nicht jedoch über sein eigentliches, ganzes Wesen). Solche Einzelbeobachtungen (Thurneysen fasst ihr Ergebnis unter dem Begriff "Menschenkenntnis" zusammen) können dem Seelsorger wertvolle Anregungen liefern, nicht nur für die Diagnose, sondern auch für die Therapie. Aber sie müssen zuvor aus ihrem ideologischen Rahmen (dem Rahmen der einzelnen humanwissenschaftlichen Schulen) gelöst und auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gesamtzeugnis der Bibel geprüft worden sein. Dann wird es sich zeigen, ob sie der Seelsorge dienen können und sich dem - neuen, "geistlichen" – Feld einer biblisch orientierten Seelsorge einfügen lassen.
Eduard Thurneysen hat das Verhältnis von Seelsorge und Humanwissenschaften (hier: Psychologie) so definiert:
"Das Ansprechen des Menschen im Seelsorgegespräch setzt Menschenkenntnis voraus: Die Seelsorge bedarf darum der Psychologie als einer Hilfswissenschaft, die der Erforschung der inneren Natur des Menschen dient und die diese Kenntnis vermitteln kann. Sie hat sich dabei kritisch abzugrenzen gegen ihr wesensfremde weltanschauliche Voraussetzungen, die mitlaufen und die das ihr eigene, aus der Heiligen Schrift erhobene Menschenverständnis beeinträchtigen könnten."
"Eine Freigabe der Psychologie erfolgt insofern, als mit den über die innere Natur des Menschen getroffenen Bestimmungen der Gegenstand der Psychologie festgestellt wird und klar umrissen ist. Sie braucht nicht mehr zu schwanken zwischen Empirie und Spekulation, sie bearbeitet und erhellt die innere Natur des Menschen und bringt sie nach Möglichkeit zur Darstellung. Die Seelsorge aber übernimmt ihre Ergebnisse, um sie in den Dienst der ihr gebotenen Wortverkündigung zu stellen."
"Die Begrenzung, die die Menschenkenntnis der Psychologie vom Menschenverständnis der Bibel her erfährt, liegt darin, dass es endlich zu einem klaren Verzicht kommt auf jede Art von Metaphysik [...] Die Psychologie soll bei ihrem Gegenstand bleiben. Sie soll phänomenologisch betrieben werden. Sie soll nichts anderes sein wollen als Naturwissenschaft im weitesten Sinne."
Sven Findeisen schreibt über den geistlichen Differenzierungs-Prozess:
"In einem Differenzierungsprozess können lediglich einige Elemente der Methoden – etwa wie einzelne Schienen oder Schwellenstücke eines Gleises – Verwendung finden, falls sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen und in einen völlig neuen Zusammenhang eingeführt werden. Die Methode als solche geht dabei – wie eine Gleisstrecke - in Trümmer."
Zu welchen Ergebnissen ein solcher geistlicher Differenzierungsprozess gemäss der Aufforderung
"Prüfet alles und das Gute behaltet!" (1 Thess 5,21)
führen kann, soll an einigen Beispielen grob veranschaulicht werden:
- >Sigmund Freuds Beobachtung von Phänomenen wie Verdrängung, Widerstand, Projektion, Übertragung, Gegenübertragung, Macht der Triebe usw. kann für die Seelsorge hilfreich sein und findet zum Teil sogar eine direkte Bestätigung durch die Bibel (vgl. z. B. Mt 7,1 ff.; Röm 7,14ff.; 1 Joh 1,8ff.). Nicht übernommen werden können hingegen Freuds weltanschaulich-atheistische Voraussetzungen, seine kausalmechanischen Erklärungsprinzipien, sein einseitiger Triebdeterminismus (z. B. Überbetonung des Sexualtriebs), seine Umdeutung des Gewissens zum "Über-Ich" und der Sünde zu blossen "Schuldgefühlen", seine Behauptung, Gott sei das Produkt einer "kollektiven Neurose" u. v. a. (>Psychoanalyse).
- C. G. >Jungs Untersuchungen über das Kollektiv-Unbewusste, die Einstellungs- und Funktionstypen, das religiöse Suchen des Menschen usw. können dem Seelsorger dienlich sein, jedoch nicht in dem Rahmen eines religiösen Pluralismus und Psychologismus, in dem sie bei Jung selber stehen.
- Carl Rogers` Prinzipien der Einfühlung, Wertschätzung und Echtheit fügen sich dem biblischen Liebesgebot ein und waren schon immer (!) Kennzeichen jeder echten Seelsorge, aber nur als erster Schritt und nie in der isolierten Art wie bei Rogers, der von einem unbiblischen, optimistischen Menschenbild ausgeht. Von echter Liebe geprägte Seelsorge nimmt hingegen den Menschen als Sünder ernst, hilft ihm daher, seine Sünde zu erkennen, und spricht ihm das Vergebungswort Gottes zu.
- B. F. Skinner (Behaviorismus) hat wertvolle Beobachtungen über den Zusammenhang von Reiz und Reaktion, Konditionierung und Verhalten u. ä. gemacht. Wird jedoch das Menschsein auf solche Zusammenhänge beschränkt, werden die Ebenen des Geistes, der Transzendenz, der moralischen Verantwortlichkeit usw. übersehen, dann entsteht ein verkürztes und verfälschtes Menschenbild. Für die Seelsorge gilt: Sie will nicht Teile des Verhaltens, sie will den Menschen ändern.
- Viktor Frankl (>Logotherapie) nimmt das Streben des Menschen nach Transzendenz und Sinn ernst, steht aber durch die Postulierung eines (ins allgemeine gehaltenen) "Über-Sinn"-Prinzips in Gefahr, den einzig wahren Sinngeber – den lebendigen Gott – zu verfehlen.
- Jürgen >Habermas und (in seinem Gefolge) Dietrich Stollberg untersuchen Bedingungen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Durch ihre Ausklammerung einer transzendenten Offenbarungswahrheit, nämlich des Redens Gottes, das alle echte menschliche Kommunikation bedingt und trägt, bleiben sie jedoch in einem verschwommenen Wahrheitsaktualismus ("Wahrheit im Prozess"), Normenrelativismus und Heilsindifferentismus stecken.
Wir dürfen dankbar anerkennen, dass humanwissenschaftliche Schulen biblische Aussagen über den Menschen zum Teil bestätigt oder endlich deutlich ans Licht gehoben haben. Auch für neue Erkenntnisse, die sich so vielleicht in der Bibel nicht finden, dürfen wir dankbar sein, soweit diese nicht in Widerspruch zum biblischen Reden von Gott, Mensch und Welt treten. Abzulehnen sind aber alle Aussagen, die dem biblischen Gesamtzeugnis widerstreiten. Die Seelsorge selber hat einen Schatz, einen unvergleichlich großen Schatz, der es dringend verdient hat, (wieder) entdeckt zu werden: die Bibel. Von ihr können wir unendlich viel lernen – nicht nur über Menschenkenntnis, sondern auch über das wahre Menschenverständnis. Denn nur die Bibel zeigt uns den Menschen in allen Bezügen. "
Sie setzt dort ein, wo die profane Anthropologie aufhört und notwendigerweise aufhören muss: bei jener Ganzheit des Menschen, die in seinem personalen Sein begründet ist" (E. Thurneysen).
Lit. L. Gassmann, Selbstverwirklichung – das Zauberwort in Psychologie und Seelsorge, 1999 (dort alle Literatur- und Quellenangaben).
Lothar Gassmann
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de