Als »Meilenstein des ökumenischen Prozesses« wurde ein Dokument bezeichnet, das gemeinsam von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK, Zusammenschluss evangelischer und orthodoxer Kirchen) und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE, römisch-katholisch) herausgegeben und im April 2001 unterzeichnet wurde. Auf dem ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin im Mai 2003 wurde diese »Charta Oecumenica« von 16 Kirchen, darunter die Römisch-Katholische Kirche sowie zahlreiche orthodoxe und evangelische Kirchen und Freikirchen, in einem feierlichen Gottesdienst unterschrieben. Angeregt worden war diese Charta auf der Europäischen Ökumenischen Versammlung 1997 in Genf. Diese großen Europäischen Ökumenischen Versammlungen werden gemeinsam von KEK und CCEE veranstaltet. Die KEK repräsentiert die europäische Ökumene und entspricht dem ÖRK auf weltweiter und dem ACK auf deutscher Ebene.
Obwohl sie die klassische liberale Ökumene repräsentiert, sind >Evangelikale und angeblich »Bibeltreue« stark im KEK vertreten:
Zu den deutschen KEK-Mitgliedern gehören neben der EKD und den >Alt-Katholiken u.a. auch der Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden (BEFG, Baptisten) und die Evangelisch-methodistische Kirche (EmK; Methodisten).
Das Hauptthema der Charta ist die Verständigung und Versöhnung von Kirchen, Kulturen, Völkern und Religionen in einem neuen Europa. Die Kirchen verpflichten sich in der Charta, die Einigung des europäischen Kontinents zu fördern. Dabei wird der christliche Glaube jedoch lediglich als eine Kraft verstanden, die zur religiösen »Bereicherung Europas« dient. So heißt es unter dem Punkt »Europa mitgestalten«:
"Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt. Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen."
Das Nachrichtenmagazin »Topic« kommentiert:
"Mit dieser Verpflichtung haben die Kirchen gleich mehrere zentrale Absichten der Freimaurerei unterschrieben … »Menschenrechte«, »Freiheit«, »Toleranz«, »Solidarität« (=Brüderlichkeit), sind zentrale Begriffe der Freimaurerei, die in der Bibel keine oder eine andere Bedeutung als im weltlichen Bereich haben. Die Toleranz ist dabei der Schlüssel allen freimaurerischen Denkens und Handelns. Sie fungiert als »Bindemittel« für unterschiedlichste Ansichten."
Mit der Charta verpflichten sich die Kirchen auch, das Evangelium nur in gegenseitiger Absprache zu verkündigen:
"Wir verpflichten uns, über unsere Initiativen zur Evangelisierung mit den anderen Kirchen zu sprechen, darüber Vereinbarungen zu treffen und so die schädliche Konkurrenz sowie die Gefahr zu neuer Spaltung zu vermeiden."
Was die einzelnen Kirchen unter »Evangelium« verstehen, steht dabei überhaupt nicht zur Debatte. Für die römisch-katholische Kirche bedeutet »Evangelisation«, Menschen zu Werkgerechtigkeit, Ritualismus und Marienverehrung hinzuführen. Hätten sich wohl Luther und der Ablassprediger Tetzel in Sachen Evangelisation einigen können? Hätten sie einander die Hände geschüttelt und zustimmend genickt und anerkannt, dass man in freundschaftlichem Miteinander sowohl die biblische als auch die römisch-katholische Auffassung vom Seelenheil verkündigen solle?
Das biblische Evangelium sucht man vergeblich in der Charta und ihren Begleitmaterialien. Die Religiosität der Charta ähnelt vielmehr dem römisch-katholischen Verständnis. Ziel ist die »sichtbare Einheit«, d. h. die organisatorische, hierarchische Einheit, wie die katholische Kirche sie stets aufrechterhalten hat. Anzustrebende Wegepunkte zu dieser sichtbaren Einheit sind die »gegenseitig anerkannte Taufe« und die »eucharistische Gemeinschaft«. Das Ziel heißt also >Sakramentalismus – ein Wesensmerkmal des >Katholizismus. Die >Eucharistie gibt es in den reformatorischen Kirchen gar nicht; und mit der Taufe ist offenbar die Ritualtaufe gemeint, durch die man ohne biblische Bekehrung zum »Christen« und zum Glied der ökumenischen Kirchen gemacht wird.
Stark katholisch anmutende >Rituale, Symbole und Bilderverehrung (Bilderkult) finden sich auch in den Gottesdienstvorschlägen der »Arbeitshilfe« zur Charta. Den Gemeindezusammenkünften im Neuen Testament sind solche Zeremonien fremd. Die »Arbeitshilfe« empfiehlt hingegen sogar Bräuche des römisch-katholischen Festes »Mariä Himmelfahrt«.
Die Charta geht jedoch noch einen Schritt weiter. Unter Punkt 11, »Beziehungen zum Islam pflegen«, verpflichten sich die Kirchen:
"Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen sowie den christlich-islamischen Dialog wollen wir auf allen Ebenen intensivieren. Insbesondere empfehlen wir, miteinander über den Glauben an den einen Gott zu sprechen und das Verständnis der Menschenrechte zu klären … Wir verpflichten uns … bei gemeinsamen Anliegen mit Muslimen zusammenzuarbeiten."
Die begleitende »Arbeitshilfe« zur Charta druckt bei diesem Punkt sogar die 1. Sure und die islamischen Feiertage ab und empfiehlt als Aktion den »Tag der offenen Moschee«. Mit keinem Wort wird hingegen auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Muslimen das biblische Evangelium zu verkündigen, damit sie gerettet werden.
Religionsvermischung wird in der Charta-Arbeitshilfe außerdem an etlichen weiteren Stellen gefördert, z. B.:
Die Charta und die »Arbeitshilfe« betonen immer wieder ihren verbindlichen, verpflichtenden Charakter. Sie ist eine rechtliche Vorgabe von oben, vom Dach der Ökumene, an die sich die einzelnen Kirchen vor Ort halten müssen. Zwar hat sie noch keine kirchenrechtliche Wirkung, pocht aber in ihren Aussagen mit dem psychologischen Druck eindringlicher Wiederholungen auf ihre verbindliche Geltung. Wer sich dieser Verpflichtung entzieht, gilt folglich als Querulant und intoleranter >Fundamentalist.
Die unterzeichnenden Kirchen haben sich mit der Unterschrift quasi unter einen Eid gestellt, obwohl die Bibel solche Satzungen deutlich verbietet:
»Was unterwerft ihr euch Satzungen, als lebtet ihr in der Welt?« (Kol 2,20).
Wir sollen uns unter kein Joch begeben, denn »für die Freiheit hat Christus uns freigemacht« (Gal 5,1). Und für ein gemeinsames Joch mit solchen, die nur dem Namen nach Christen sind, aber die Kraft des Evangeliums leugnen, gilt erst recht:
»Geht nicht unter fremdartigem Joch mit Ungläubigen! Denn welche Verbindung haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis?« (2. Kor 6,14).
Deshalb können sich bibeltreue Christen von der Charta Oecumenica und ihren Verfechtern nur distanzieren.
Lit.: E. Brüning / H.-W. Deppe / L. Gassmann, Projekt Einheit. Rom, Ökumene und die Evangelikalen, 2004.
Hans-Werner Deppe
Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handbüchern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):
1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines Ökumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch
Weitere Handbücher (über Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de