Oetinger, Friedrich Christoph (1702-1782) war – wie Johann Albrecht >Bengel – in seinen letzten Lebensjahren württembergischer Prälat.
Er verkörperte und prägte die mystisch-spekulativ-theosophische Richtung im württembergischen Pietismus und darüber hinaus. An ihn haben später z.B. Johann Michael >Hahn und viele andere angeknüpft. Oetinger verfolgte das Ziel, eine Heilige Philosophie (lat. philosophia sacra) zu entfalten, die alle Gebiete des Lebens und Wissens von der Wirklichkeit Gottes her betrachtet (gleichsam als pietistische Antwort auf das von der Aufklärung geprägte enzyklopädische Leibniz-Wolffsche-System, das in seiner Zeit sehr einflussreich war).
Zu diesem Zweck knüpfte Oetinger an die Heilige Schrift an, aber zugleich an das "Buch der Natur", da er diese – durchaus zu Recht – ebenfalls als >Offenbarung Gottes betrachtete (vgl. Röm 1,18ff.). Oetinger wollte in das Herz aller Dinge schauen und die Geheimnisse Gottes ergründen. Dabei ging er allerdings über die Heilige Schrift und das in der geschaffenen Natur Erkennbare hinaus. Da er selber keine "Zentralschau" in die Geheimnisse Gottes und der Welt (wie vor ihm Jakob Böhme und nach ihm Michael >Hahn) erlebte, knüpfte er bei seiner Suche nach den Urgeheimnissen an solche Quellen an, die ihm dennoch einen Einblick in die übersinnliche Welt ermöglichen sollten, und übernahm von diesen jeweils Elemente (Eklektizismus).
Zu den wichtigsten Quellen Oetingers gehören
besonders >Swedenborg ("Träume eines Geistersehers") und Jakob Böhme. Insbesondere die Schriften des Theosophen Böhme wurden für ihn fast zu einer zweiten Bibel, wie er in seiner "Selbstbiographie" schreibt. Entsprechend diesem Ansatz und den zugrundeliegenden Quellen, lehrte Oetinger die Vereinigung von Geist und Natur – nun aber nicht im Sinne einer von sich aus vorhandenen Einheit wie im Pantheismus (Allgottheitsglaube), sondern im Sinne der Herablassung (Kondeszendenz) Gottes aus der Geistwelt in die Leiblichkeit, welche dazu dient, Geist und Natur, die durch den Sündenfall getrennt wurden, zusammenzuführen. Oetinger betonte die Inkarnation, die Herablassung Gottes, als Urgeheimnis der Wirklichkeit. Ihr Ziel ist die "Gegenwart Jesu im Menschen".
Jesus wird für Oetinger unmittelbare Wirklichkeit im Menschen nach dem Satz "Meine Kirche ist der Tempel meines Leibes". Man spricht hier von einem realistischen >Spiritualismus (statt einem idealistischen Spiritualismus), von der begeisteten Natur. Natur und Geist gehen ineinander über. Es kommt hier eine Naturphilosophie zum Tragen, welche später u.a. auch Philosophen wie >Schelling und >Hegel beeinflusst hat.
Oetinger sagt (zit. nach Oetinger-Brevier):
"Die Sünde ist entstanden aus der Trennung der zusammengeordneten Kräfte",
indem sich
"das Natürliche von dem Geistlichen ... getrennt hat."
"Da aber das Animalische die Oberhand gewann, so geschah auch eine Zerrüttung in dem Gemüt."
Um diesen Fall aus der Ordnung der Lichtwelt zu beseitigen, kam der Sohn Gottes leiblich zur Menschheit herab und ermöglichte durch seinen Kreuzestod und seine Gegenwart im Menschen die Überwindung der Distanz zwischen Geist und Natur:
"Das geistliche Wesen ohne Leiblichkeit ist roh und ohne Selbstbewusstsein. Das Geistliche sucht also sein Leibliches zu seiner Vollkommenheit." (S. 250).
"Aus dem Fleisch wird jeder Gläubige erst durch Christus erhoben, das ewige Leben des Geistes zu haben." (S. 314).
"Das ist des Hohepriesters großes Geschäft, die zerstäubende Materie in ein Unzerstörliches zu erheben." (S. 337).
Aus dieser Sichtweise ergibt sich auch Oetingers Verständnis der Wiedergeburt im Sinne einer Vergöttlichung der durch Christus gereinigten, das heißt aus dem Materialismus zur Vergeistigung erhobenen Menschennatur:
"Also ist die Geburt Jesu im Fleisch der Grund und Mittelpunkt aller Geburten, welche mit Christi Wesen, mit seinem Fleisch und Blut, müssen erhöht und zur himmlischen, göttlichen Natur gebracht werden." (S. 354).
Liest man diese Sätze, dann ist die Vollendung dieses Verschmelzungsprozesses von Geist und Natur in Form der >Allversöhnung (griech. apokatastasis panton; Wiederbringung aller Dinge) für Oetinger nur folgerichtig:
"Es bricht aus dem Unsichtbaren das Sichtbare auf eine Zeit heraus und verschwindet auch wieder. Diese Konnexion muß man ersehen. Das heißt eine Ewigkeit, wenn etwas Hervorgebrachtes eine Zeitlang währt und sich wieder ins Unsichtbare zurückzieht." (S. 439).
Die Wiederbringung aller Dinge kann bei Oetinger wie auch bei seinem Vorläufer Jakob Böhme und seinen Nachfolgern gefunden werden. Diese Lehre hat ihre erste andeutungsweise systematische Ausgestaltung in gnostischen Systemen des 2. Jahrhunderts nach Christus erfahren (Gnosis). Sie wurde von Origenes (ca. 185-254 n. Chr.) als Vertreter eine "kirchlichen Gnosis" zu einem umfangreichen geschlossenen System ausgebaut. In verschiedenen Variationen zieht sie sich seither als Nebenströmung durch die christliche Theologie hindurch und ist bis heute heftig umstritten. Sie besitzt meines Erachtens eher philosophische als theologische Wurzeln und geht aus der Heiligen Schrift keineswegs klar hervor, wie von ihren Anhängern immer wieder behauptet wird. Eine umfassende Diskussion über diese Frage kann an dieser Stelle allerdings nicht geführt werden (ausführlicher s. >Allversöhnung).
Bei Oetinger sehen wir: Es sind auch in den Pietismus immer wieder mystische und philosophische, ja sogar okkulte Spekulationen eingedrungen. Geist und Natur verschmolzen bei ihm. So besaß er großen Einfluss auf spätere philosophische und theosophische Systeme. Seine "Heilige Philosophie" hat – bei aller Genialität und apologetischen Absicht im Blick auf den aufklärerischen Zeitgeist während des Wirkens Oetingers – allerdings mehr Ähnlichkeit mit gnostischer Spekulation als mit dem Wortlaut der Heiligen Schrift in ihrem unverfälschten Gesamtzusammenhang. Oetinger ist ein Beispiel dafür, wie sich wirklicher Bibelglaube mit unbiblischen und philosophischen Elementen vermischen kann. Er hat in späteren Lebensabschnitten sogar Geistern "gepredigt". Anderen Pietisten (z.B. >Jung-Stilling, >Oberlin und Johannes Gommel, dem "Geisterhannesle") sind immer wieder Geister "erschienen".
Hier zieht sich – wir müssen das so klar sagen – leider auch eine finstere, dämonische Linie durch den Pietismus, die das Wort Gottes klar gegen sich hat. In der Bibel wird jede Form des Verkehrs mit Geistern ebenso als Sünde bezeichnet wie magische und mantische Praktiken jeder Art (z.B. auch das Eindringen in übersinnliche Welten und alchemistische Experimente). Man lese nur einmal 5. Mose 18,9-14 und andere Stellen! Wir sollten in solchen Fragen – wie auch generell – allein auf die Bibel hören und nicht auf menschliche "Väter". Denn kein Mensch ist vor Sünde und Irrtum gefeit.
S. auch: Pietismus; Mystik; Theosophie; Spiritismus; >Spiritualismus; >Philosophie.
Lit.: G. Spindler/R. Haug (Hg.), Etwas Ganzes vom Evangelium. Friedrich Christoph Oetingers Heilige Philosophie. Ein Brevier (=Oetinger-Brevier), 1982. – Kritisch: R. Holzhauer, Verführungsprinzipien, 2000, 150ff.; L. Gassmann, Pietismus – wohin?, 2003.
Lothar Gassmann
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