Neuoffenbarung (auch: direkte Offenbarung) ist eine Offenbarung, die �ber die im biblischen Kanon vorhandene Of-fenbarung hinausgeht und die diese ersetzen, erg�nzen oder korrigieren m�chte.
Neuoffenbarungsbewegungen sind s�mtliche auf neue "Propheten" (falsche Propheten) und Apostel zur�ckgehenden Sekte n, die zur Bibel etwas hinzuf�gen, z.B. Mormonen, Christliche Wissenschaft, Neuapostolische Kirche, Anthroposophie, >Universelles Leben, Lorberianer, manche "Einzelpropheten" in der >Pfingst- und >Charismatischen Bewegung und unz�hlige andere. Die Behauptung einer "direkten Offenbarung" findet sich in verschiedenen Formen bei den Mystik ern und religi�sen Spiritualisten aller Zeiten. Bereits die Mitglieder der um 156/157 n. Chr. entstandenen Sekte des Montanus (>Montanisten) beanspruchten, in ekstatischen Zust�nden und Visionen direkte, �ber die Bibel hinausgehende "Offenbarungen" von Gott zu erhalten. Der Kirchenhistoriker Euseb bezeichnete sie als "Falschpropheten" und schrieb �ber ihren Begr�nder: "Andere aber lie�en sich durch ihn verf�hren, als spr�che aus ihm ein heiliger Geist und als bes��e er ein prophetisches Charisma" (Kirchengeschichte V,16,8). Verschiedene gnostische Gruppen (griech. gnosis = "Erkenntnis") zur Zeit der Alten Kirche unterschieden zwischen Hylikern (grob materiell Gesinnten). Psychikern (den gew�hnlichen Gl�ubigen, die sich auf die biblische Offenbarung st�tzen) und Pneumatikern (den eigentlichen Gnostikern, die "Geist" und �bersinnliche Erkenntnis besitzen). Die Gnostiker empfangen angeblich immer neue "Offenbarungen". Diese Linien setzten sich am Rande oder au�erhalb der Kirche bis ins Mittelalter, die Reformationszeit und die Gegenwart hinein fort. Meister Eck (e)hart (ca. 1270-1328) und andere Mystik er des Mittelalters strebten die Vereinigung der Seele mit dem G�ttlichen (unio mystica) an. Ist diese eingetreten, dann wird ein "inneres Licht" entz�ndet, eine ">Erleuchtung" findet statt. Der, der "in sich den Gott gefunden" hat, bedarf "f�r ein rechtes, g�ttliches Leben keines �u�eren Gesetzes, keiner menschlichen Weisung, keiner Belehrung aus B�chern, welche sagen, was einstens war: Gott selbst ist in ihm gegenw�rtig und gibt ihm Lehre und Weisung. Er ist selbst ein Offenbarungsquell f�r andere, die noch nicht den Gott in sich gefunden" (Meister Eckehart, Schriften, 1934, 2). Unter den zahlreichen "Schw�rmern" der Reformationszeit trat besonders Thomas M�ntzer (gefallen 1525) hervor. M�ntzer nahm an, dass das durch den Bibeltext nicht vollkommen erfasste "Wort Gottes" im menschlichen Herzen als "�bernat�rliche Erleuchtung, Vision usw." wirkt. Die M�ntzerische Theologie steht im engen Zusammenhang mit der Mystik, z.B. seine Polemik gegen den "heiligen Buchstaben". Auch J. v. Fiores Lehre vom "ewigen Evangelium" war M�ntzer bekannt. Wir k�nnen unseren historischen Exkurs hier abbrechen, weil der immer gleichbleibende Zug in der Lehre von der "direkten Offenbarung" bereits deutlich hervorgetreten ist: Es wird ein direkter Offenbarungsempfang durch Tr�ume, Visionen, "h�here Erkenntnisse", "Vereinigung mit dem G�ttlichen" usw. behauptet, der das geschriebene Bibelwort als Offenbarungsmittler an die zweite Stelle r�ckt.
Aus theologischer Sicht sind an alle Bewegungen und "Propheten", die sich auf Neuoffenbarungen berufen, zwei grunds�tzliche Fragen zu richten: a) Lassen die im biblischen Kanon zusammengestellten Schriften von ihrem Selbstverst�ndnis her die M�glichkeit neuer, �ber sie hinausgehender Offenbarungen zu? b) Wenn ja: Stehen die Neuoffenbarungen in inhaltlicher Kontinuit�t zu den Aussagen der Bibel � oder werden Widerspr�che sichtbar? Aus der Betrachtung der biblischen Heilsgeschichte (z. B. der Berufung der Propheten) ergibt sich: Der pers�nliche Gott der Bibel offenbart sich souver�n: wo, wann, wem und wie er will. Obwohl somit der � f�r manche Str�mungen charakteristische � Versuch zum Scheitern verurteilt ist, auf methodischem Wege Zugang zu h�heren, "g�ttlichen" Offenbarungen zu gewinnen, bleibt dennoch die M�glichkeit neuer Offenbarungen zun�chst nicht ausgeschlossen. Denn gerade weil Gott souver�n ist und sich offenbaren kann, wo, wann, wem und wie er will � gerade deshalb kann er sich auch nach Abschluss des biblischen Kanons (auch in der Gegenwart) offenbaren. Wer k�nnte oder wollte Gottes Wirken begrenzen, wer � au�er Gott selber? Damit aber sind wir am entscheidenden Punkt angelangt: Gott selbst hat seine Offenbarung begrenzt � und zwar, indem er ihr heilbringende Eindeutigkeit verliehen und sie an das biblische Wort gebunden hat. Gott hat sich als der eine und alleinige Gott geoffenbart, gegen�ber dem alle anderen G�tter "Nichtse" sind (2. Mose 20,2f.; 5 Mose 6,4: Jes 44,6ff. u. �.). Er hat seinen Sohn Jesus Christus als den einzigen Weg zum Vater, als einzigen Heilsmittler in die Welt gesandt (Joh 14,6; Apg 4,12; 1. Tim 2,5 u.�.). Dementsprechend hat er seinen Boten ein einziges Evangelium aufgetragen und diejenigen sogar mit seinem Fluch belegt, die "ein anderes Evangelium" verk�ndigen (2. Kor 11,3f.: Gal 1,6ff.). Dieses eine und einzige Evangelium nun mit seiner Verk�ndigung des einzigen Gottes und Heilsweges ist die Richtschnur, an der alle neuen Offenbarungen, alle "anderen Evangelien" zu messen sind. Und dieses Evangelium ist an das "in Ewigkeit bleibende" Wort Gottes gebunden (Jes 40,8; 1. Petr 1,25).
W�hrend die Spiritualisten aller Zeiten den Geist vom Wort l�sen wollen (sie setzen im Gefolge einer Fehldeutung des Origenes das Bibelwort mit dem "Buchstaben" in 2. Kor 3,6 gleich; s. Spirituelle Interpretation), sind Wort und Geist in biblisch-theologischer Sicht eine Einheit. Wort und Geist k�nnen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern "Gott gibt seinen Geist nicht anders als so, dass das �u�ere Wort vorangeht; also nicht unmittelbar, >ohn Mittel<, sondern mittelbar" (P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 1980, 43). W�re der Geist nicht mehr an das �u�ere Bibelwort gebunden, dann w�re der Willk�r, der Uneindeutigkeit und damit der Heillosigkeit T�r und Tor ge�ffnet. Gott aber "will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Tim 2.4) � und das kann nur erm�glicht werden, wenn die Offenbarung Gottes innerlich klar und eindeutig ist. Mit Martin Luther sprechen wir deshalb von einer "litera spiritualis", einem geisthaltigen Wort und einem wortgebundenen Geist (WA 7,647ff.). Eine "direkte Offenbarung", ein Sprechen des Geistes Gottes unter Umgehung des �u�eren Bibelwortes, ist somit mit dem biblischen Schriftverst�ndnis unvereinbar. "Neue Offenbarungen" k�nnten nur entweder das im Bibelwort Gesagte best�tigen oder aber inhaltlich dar�ber hinausgehen. Im ersten Fall w�ren sie �berfl�ssig, im zweiten Fall spekulativ. In jedem Fall aber w�rden sie den in der Bibel klar dargelegten Heilsweg relativieren. Nicht umsonst warnt Paulus die nach h�herer "Erkenntnis" und "Menschenweisheit" (1. Kor 1f.) strebenden Korinther, nicht �ber das hinauszugehen, "was geschrieben steht" (1. Kor 4,6; vgl. 2 Joh 9f.; Offb 22,18 f.).
Nun stellen sich die Fragen: Was steht denn geschrieben? Ist der biblische Kanon abgeschlossen? Oder gibt es nicht doch eine "fortschreitende Offenbarung" aus geistigen Welten, die dann ebenfalls zum "�u�eren Wort" wird? Um diese Fragen zu beantworten, betrachten wir die Hauptkriterien, die in der Alten Kirche zur Festlegung des biblischen Kanons gef�hrt haben (wir beschr�nken uns dabei auf den � zeitlich n�her liegenden � neutestamentlichen Kanon):
Betrachten wir diese Hauptkriterien der Alten Kirche, so sehen wir, dass hier in �u�erst vorsichtiger und sorgf�ltiger Weise � unter Leitung des Heiligen Geistes � das �lteste und authentischste Traditionsgut des christlichen Glaubens gesammelt und zum neutestamentlichen Kanon vereinigt wurde. Dieser Kanon ist nun in der Tat die "Richtschnur" � und in seiner jetzt vorliegenden Gesamtheit die "Glaubensregel" -, an der alle neu auftretenden "Offenbarungen" zu messen sind. Er ist auch die Richtschnur, die Auskunft dar�ber erteilt, ob eine fortschreitende Offenbarung �berhaupt gegeben ist.
Obwohl spiritualistische Ausleger den biblischen Kanon nicht als ausschlaggebendes Kriterium zur Beurteilung neuer Offenbarungen ansehen, wollen sie ihn in ihrer Argumentation dennoch nicht �bergehen. So versuchen sie, ihre Behauptung einer "fortschreitenden Offenbarung" durch den Rekurs auf einzelne Bibelstellen abzust�tzen. Die Frage ist nun aber, ob die Bibelstellen, die sie heranziehen, tats�chlich von einer fortschreitenden Offenbarung, vom Christentum als einem "immer wachsenden" sprechen � oder ob diese Deutung ihrerseits durch eine Art von "allegoristischer Eisegese" zustande kommt. Wir betrachten dazu die immer wieder herangezogenen "Hauptbelegstellen" im einzelnen. Dabei handelt es sich u. a. um Joh 16,12 und das Pfingstereignis (Apg 2). "Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr k�nnt es jetzt nicht tragen" (Joh 16,12) � diesen Satz spricht Jesus zu seinen J�ngern in einer ganz bestimmten Situation, n�mlich vor Antritt seines Leidens- und Herrlichkeitsweges und vor der Ausgie�ung des Heiligen Geistes an Pfingsten. Zu diesem Zeitpunkt kann die Welt � und k�nnen auch die J�nger � den Weg und das Wesen Jesu Christi noch nicht wirklich verstehen (Joh 16,10f.). Erst an Pfingsten kommt der "Geist der Wahrheit", der die J�nger "in alle Wahrheit leiten" wird (Joh 16,13). Charakteristisch f�r das Wirken des Geistes ist vor allem dreierlei:
Daraus wird deutlich: Der Heilige Geist bringt keine vom Wort Jesu losgel�sten "neuen Offenbarungen", sondern vergegenw�rtigt, best�tigt, erkl�rt und entfaltet das von Jesus Gesagte und Gewirkte. Das geschieht ganz konkret in den "geistgehauchten" (2. Tim 3,16) Schriften des Alten und Neuen Testaments, welche die drei Funktionen des Erinnerns (Joh 14,25), des Lehrens (ebd.) und der Verk�ndigung des Zuk�nftigen (Joh 16,13) beinhalten. Das Erinnern an das Leben Jesu geschieht v. a. in den Evangelien, das Lehren v. a. in den Briefen und die Verk�ndigung des Zuk�nftigen v. a. in der Apokalypse. Nach dem biblischen Schriftverst�ndnis gibt es somit keine fortschreitende Offenbarung, die �ber das im Kanon Gesagte hinausginge. In den Schriften der Bibel ist der gesamte Verlauf der Heilsgeschichte � von der Weltsch�pfung (1. Mose 1) bis zur Weltvollendung (Apk 22) � dargestellt. Diese Offenbarung ist mit der Sendung und Verk�ndigung Jesu Christi zu ihrem H�hepunkt und Abschluss gekommen (Hebr 1,1; Apk 22,13.16-21). Insbesondere jedoch ist in den Schriften der Bibel alles enthalten, was f�r das Heil und ewige Leben des Menschen notwendig ist. Deshalb kommt es den biblischen Autoren gar nicht so sehr auf eine l�ckenlose Schilderung der Ereignisse an, sondern es gen�gt die Darstellung dessen, was zur Weckung und St�rkung des rettenden Glaubens f�hrt: "Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor den J�ngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, dass ihr glaubt: Jesus ist der Christus. der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen" (Joh 20,30 f.).
Der einzige objektive Ma�stab zur Pr�fung neuer Vorstellungen oder "Offenbarungen", wo immer diese herkommen m�gen, ist und bleibt der biblische Kanon selbst, und zwar der Kanon in seinem Gesamtzusammenhang und Literalsinn. Dabei steht von vornherein fest, dass heutige neue "Offenbarungen" allein schon wegen des Zeitabstandes zum biblisch �berlieferten Geschehen das grundlegende Kriterium der Apostolizit�t bzw. Urkirchlichkeit nicht erf�llen k�nnen. Sie sind somit der in der Bibel bezeugten Offenbarung nicht gleich-, sondern unterzuordnen. Nicht die Bibel ist solchen neuen "Offenbarungen" allegorisch anzupassen, sondern diese "Offenbarungen" sind nach ihrer �bereinstimmung oder Nicht�bereinstimmung mit dem biblischen Kanon (als "Glaubensregel") zu befragen.
Die Bibel ist zwar in Zeit und Raum entstanden, aber sie ist nicht zeitbedingt und relativ. Sie vermittelt das in Ewigkeit bleibende und die gesamte Heilsgeschichte umfassende g�ttliche Wort. Gott hat sich durch seinen Geist an dieses Wort gebunden und damit dessen G�ltigkeit bleibend festgelegt, um die Eindeutigkeit des Heilsweges zu gew�hrleisten. Wort und Geist sind eine Einheit. Wer eine "Offenbarung des Geistes" empf�ngt, die inhaltlich �ber das biblische Wort hinausgeht, es relativiert oder gar in Widerspruch zu ihm tritt, kann sich damit nicht auf das biblische Schriftverst�ndnis berufen. Nach dem biblischen Schriftverst�ndnis gibt es keine "direkte Offenbarung" von Gott ohne Grundlage im biblischen Wort. Auch die "fortschreitende Offenbarung" ist mit der Kanonisierung des Neuen Testaments zum Abschluss gelangt, weil nun (mit dem Kommen Jesu Christi) f�r die Zeit von der Weltsch�pfung bis zur Weltvollendung alles Heilsnotwendige gesagt ist. Wer sich dennoch auf neue Offenbarungen � etwa in Gestalt von Tr�umen und Visionen � beruft, muss bereit sein, sie an der "Glaubensregel", d.h. am vorliegenden biblischen Kanon in seinem Wortsinn und Gesamt-kontext messen zu lassen.
S. auch: >Offenbarung; Erkenntnisse h�herer Welten; >Erleuchtung; Spirituelle Interpretation; >Vision; >Prophetie; Falsche Propheten.
Lit.: H. v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, 1968; K.-H. Ohlig, Die theologische Begr�ndung des neutestamentlichen Kanons in der Alten Kirche, 1972.
Kanon, biblischer: Neuoffenbarung
Lothar Gassmann
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