Rutherford, Joseph Franklin

Klick auf den Kompass öffnet den IndexRutherford, Joseph Franklin (1869-1942) war nach Charles Taze Russel l der zweite Pr�sident der Ernsten Bibelforscher (seit 1931: Zeugen Jehovas). Rutherford wurde am 8. November 1869 auf einer Farm in Morgan County/Missouri geboren. Seine Eltern waren Baptisten. Mit 16 Jahren besuchte er ein College, um Rechtswissenschaften zu studieren. Mit 20 Jahren fungierte er bereits als Protokollf�hrer f�r die Gerichte des 14. Gerichtsbezirks in Missouri. 1892 wurde er als Rechtsanwalt in Missouri zugelassen. Er er�ffnete eine Praxis in Boonville und wurde Prozessanwalt der Firma Draffen und Wright. Sp�ter war er als Staatsanwalt und vertretungsweise auch als Sonderrichter am Gericht des achten Gerichtsbezirks von Missouri t�tig.  Von dieser T�tigkeit als Sonderrichter her wandte er den Titel "Richter" auf sich an. Von seinen Anh�ngern wurde er � nicht ganz korrekt � als "Richter Rutherford" bezeichnet, �hnlich wie Russell den Titel "Pastor" f�r sich in Anspruch nahm. Als Jurist war Rutherford so erfolgreich, dass er erm�chtigt wurde, Rechtsf�lle vor dem Obersten Gerichtshof der USA in Washington D. C. zu f�hren. Von 1909 bis zu seinem Tod fungierte er als Staatsanwalt in New York, zum Teil noch neben seiner Pr�sidentschaft der Wachtturm-Gesellschaft her.

1894 hatte Rutherford von zwei Anh�ngerinnen Russells an der Haust�r drei B�nde der "Schriftstudien" (damals noch "Millennial Dawn") erhalten, was sein Interesse an dieser Bewegung weckte, doch sollte es bis zu seiner "Taufe" noch bis zum Jahre 1906 dauern. Seit 1907 schlie�lich war er als Rechtberater der Wachtturm-Gesellschaft t�tig, wobei er den zunehmend kr�nklicher werdenden Russell auch "theologisch" bei Auftritten und Disputen vertrat. Als Rechtswahrer aller Angelegenheiten der Wachtturm-Gesellschaft besa� er die h�chste juristische Gewalt und war schon l�ngst de facto Vertreter Russells, auch wenn er nachher unter den Komitee-Mitgliedern nur in zweiter Reihe genannt wurde. Mit eiserner Energie und juristischen Finessen schaltete er jedoch Komitee und Direktorium der Wachtturm-Gesellschaft aus, so dass er bereits am 6.1.1917 zu deren Pr�sident gew�hlt wurde.

Als Rutherford Pr�sident der Wachtturm-Gesellschaft geworden war, hatte er drei Aufgaben zu erf�llen:

Erstens musste er Reformen organisatorischer Art durchf�hren, vor allem die Werbearbeit neu beleben. Die Ernsten Bibelforscher hatten ja durch die Entt�uschung von 1914 und die Skandale um Russell schwere R�ckschl�ge erlitten.

Zweitens � und das h�ngt eng mit dem ersten Punkt zusammen � musste er die Vergangenheit bew�ltigen, vor allem die unglaubw�rdig gewordenen Zeitprophezeiungen "korrigieren" und auch den Personenkult, der sich um Russell gebildet hatte, modifizieren � das heisst: ihn von Russell wegnehmen und auf die Wachtturm-Gesellschaft �bertragen, die mehr und mehr von Rutherford repr�sentiert wurde. Drittens musste er mit menschlichen Problemen, vor allem mit Mitarbeitern und Konkurrenten fertig werden. Es existierten Mitkonkurrenten um das h�chste Amt der Gesellschaft, und Rutherfords Pr�sidentschaft war anfangs keineswegs unangefochten. Diese K�mpfe dauerten ungef�hr ein Jahr lang sehr vehement an.

Das erste war die organisatorische Reform und Belebung der Werbearbeit. Rutherford erh�hte die Zahl der sogenannten "Pilgerbr�der", Kolporteure und Pioniere, die als Missionare oder Zeitschriften-Verteiler dienten, sehr stark. Die bisher nur lose miteinander verbundenen Versammlungen oder "Ekklesias" wurden zentralisiert und mit Dienstanweisungen aus der Brooklyner Zentrale versehen. Grosse Kongresse wurden veranstaltet. Die gesamte Organisation wurde gestrafft. Dies f�hrte zu einem riesigen Anwachsen der "Bibelforscher"-Bewegung unter Rutherford und seinen Nachfolgern.

Das zweite war die Vergangenheitsbew�ltigung. Das Schrifttum Russells musste umgedeutet werden. Die nicht erf�llten Prophezeiungen waren auszutilgen oder zu aktualisieren. Wenn man von den Original-Fassungen Russells ausgeht, muss man hier von F�lschungen sprechen. In den B�nden 1 bis 6 der Schriftstudien wurden beispielsweise die Jahreszahlen teilweise ver�ndert. An anderen Stellen lie� Rutherford die Jahreszahlen nicht �ndern, sondern lie� sie einfach weg, indem er sie durch eine unbestimmte Zeitangabe ersetzte. Hie� es beispielsweise in der Ausgabe des Russell-Buches "Dein K�nigreich komme" von 1914 noch, "dass die Befreiung der Heiligen etwas vor 1914 stattfinden wird", so wurde dies 1926 dahingehend ge�ndert, "dass die Befreiung der Heiligen sehr bald nach Schluss der Ernte stattfinden wird" (S. 214). Ab Mitte der zwanziger Jahre ging man dann einfach dazu �ber, Russells Schriften nicht mehr zu drucken. Zu gross war die Zahl der falschen Voraussagen und ver�nderten Lehren.

Wie kam es nun zur Entmachtung der f�r Rutherford unangenehmen Oppositionellen innerhalb der Wachtturm-Gesellschaft? Hier war f�r Rutherford seine juristische Erfahrung hilfreich. Er fand formaljuristische Begr�ndungen f�r deren Amtsenthebung. Nach ihrer Entlassung nahmen M�nner seines Vertrauens ihre Stelle ein. Bei dieser S�uberungsaktion schlossen sich mehrere Dutzend leitende Mitarbeiter der Wachtturm-Gesellschaft den Oppositionellen an und mussten ebenfalls gehen. Auch in vielen Gemeinden kam es zu Unruhen und vielerorts auch zu Spaltungen. Im Sommer 1917 waren die meisten Versammlungen weltweit gespalten. In dieser Zeit des Machtkampfes erfolgte die entscheidende Umstrukturierung der Wachtturm-Gesellschaft, die vorher und nachher nicht in diesem Ma�e vorgenommen worden war. Die Oppositionellen betrachteten sich als die Bewahrer der reinen Lehre Russells und nannten sich zun�chst "Dawn Bible Students Association" ("Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung"). Rutherford und die Seinen galten als Abgefallene, die sich das materielle Erbe Russells angeeignet hatten 1918/19 z�hlten die "Ernsten Bibelforscher" ca. 18.000 Anh�nger. Zu den Oppositionellen d�rften sich damals sch�tzungsweise rund 4.000 Menschen gerechnet haben. Doch die Einheit der Oppositionellen war von kurzer Dauer. Dietrich Hellmund (Geschichte der Zeugen Jehovas, 1971, o.S.) berichtet �ber ihr weiteres Schicksal:

"Das Ende der oppositionellen Einheitsfront kam bald. Anl�sslich ihrer Hauptversammlung 1918 kam es zu allerlei Misshelligkeiten. Johnson �berwarf sich mit den vier Ex-Direktoren und machte ein eigenes Hauptb�ro in Philadelphia auf. Das ist der Anfang der Laymen`s Home Bible Student`s Movement. Ihr stand er bis zum Tode als �der Erde gro�er Hoherpriester` vor. Der verbliebene  Rest konnte seinerseits auch keinen Frieden untereinander halten und zerfiel bald in eine Unzahl kleiner und kleinster Sekten... Das endg�ltige Schicksal der Opposition ist Selbstzerfleischung."

1920 ver�ffentlichte Rutherford eine Schrift mit dem aufsehenerregenden Titel "Millionen jetzt lebender Menschen werden niemals sterben". In dieser Schrift sagte er f�r 1925 die "Vollendung aller Dinge" voraus, insbesondere

"die R�ckkehr der Erzv�ter Abraham, Isaak und Jakob sowie der glaubenstreuen Propheten des Alten Bundes" auf die Erde.

Als diese Prophezeiung auf das Jahr 1925 nicht eintraf, sagte Rutherford :

"Ich habe mich l�cherlich gemacht" (engl. Originaltext: "I know I made an ass of myself") ("Wachtturm" vom 25.12.1984, S. 26; zitiert nach: Rutherford Franz, Der Gewissenskonflikt, 1991, 136).

Unter den zahlreichen Neuerungen, die Rutherford einf�hrte, war die grundlegende Verpflichtung jedes Bibelforschers zum Haus-zu-Haus-Dienst, die Errichtung eigener Rundfunk-Stationen, die Abschaffung vieler als "heidnisch" geltender Br�uche und Feste (Kreuzsymbol, Weihnachten, Ostern, Geburtstag u.a.) und vor allem die Propagierung der immer sektiererische Z�ge annehmenden Bibelforscher als das neue Heilsvolk der "Zeugen Jehovas", das nun an die Stelle des alttestamentlichen Gottesvolkes Israel, aber auch der christlichen Kirchen treten sollte. Unter Rutherford erlangten die Zeugen Jehovas im wesentlichen ihr heutiges Gepr�ge. 1931 fand der entscheidende Kongress in Columbus/Ohio statt, der die neue Richtung bestimmen sollte. Auf diesem Kongress wurde die Wachtturm-Gesellschaft von Rutherford zur endzeitlichen Heilsgemeinde erhoben.

Hier nahm sie den Namen "Jehovas Zeugen" an, und zwar in Anlehnung an Jesaja 43,10-12, wo es heisst:

"Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und mein Knecht, den ich erw�hlt habe, damit ihr wisst und mir glaubt und erkennt, dass ich`s bin. Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. Ich, ich bin der Herr, und au�er mir ist kein Heiland. Ich habe es verk�ndigt und habe euch geholfen und hab`s euch sagen lassen; und es war kein fremder Gott unter euch. Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und ich bin Gott."

In Rutherfords Pr�sidentenzeit fielen harte Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und anderen totalit�ren Systemen. Allein in Deutschland gingen w�hrend der Hitler-Diktatur ca. 6.000 Wachtturm-Anh�nger f�r ihre �berzeugung in die Gef�ngnisse und Konzentrationslager. Etwa 1.000 von ihnen fanden dort den Tod (vgl. "Wachtturm" vom 1.7.1979, S. 8).Trotz dieser bewundernswert konsequenten Haltung der einzelnen Zeugen Jehovas darf nicht �bersehen werden, dass das Verhalten der Wachtturm-Gesellschaft anfangs ambivalent war. In einem Schreiben der deutschen Wachtturm-Zentrale an den "sehr verehrten" Reichskanzler Adolf Hitler vom Juni 1933, der 1994 im deutschen und amerikanischen "Jahrbuch" der Wachtturm-Gesellschaft abgedruckt wurde und somit offiziellen Charakter besa� (vgl. ACV 4/94, S. 16), hatte es u.a. gehei�en:

"Das Brooklyner Pr�sidium der Watch Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Masse deutschfreundlich ... In gleicher Weise hat sich das Pr�sidium unserer Gesellschaft in den letzten Monaten nicht nur geweigert, an der Greuelpropaganda gegen Deutschland teilzunehmen, sondern hat sogar dagegen Stellung genommen, wie dies auch in der beigef�gten Erkl�rung unterstrichen wird durch den Hinweis, dass die Kreise, welche diese Greuelpropaganda in Amerika leiteten (Gesch�ftsjuden und Katholiken), dort auch die rigorosesten Verfolger der Arbeit unserer Gesellschaft und ihres Pr�sidiums sind. Durch diese und andere in der Erkl�rung enthaltenen Feststellungen soll die Zur�ckweisung der Verleumdung, Bibelforscher w�rden durch die Juden unterst�tzt, erfolgen ... Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass in dem Verh�ltnis der Bibelforscher Deutschlands zur nationalen Regierung des Deutschen Reiches keinerlei Gegens�tze vorliegen, sondern dass im Gegenteil � bez�glich der rein religi�sen, unpolitischen Ziele und Bestrebungen der Bibelforscher � zu sagen ist, dass diese in v�lliger �bereinstimmung mit den gleichlaufenden Zielen der nationalen Regierung des Deutschen Reiches sind" (zitiert nach dem bei H.-J. Twisselmann, Der Wachtturm-Konzern, 1995, 276 ff., abgedruckten Faksimile des Original-Briefes).

Die Abgrenzung gegen "die Juden" f�llt zeitlich auffallenderweise mit deren >Substitution durch die Zeugen Jehovas als dem "neuen Heilsvolk" in den Jahren ab 1931 zusammen. Erst nachdem der Versuch, sich mit der nationalsozialistischen Regierung einvernehmlich zu arrangieren, fehlgeschlagen war und die Schikanen und Verfolgungen der Zeugen Jehovas nicht aufh�rten, schlug die Brooklyner Zentrale h�rtere T�ne an. So stellte Rutherford der deutschen Reichsregierung 1934 ein Ultimatum: "Falls bis zum 24. M�rz 1934 auf dieses ernstliche Begehren keine Antwort erfolgt und von seiten Ihrer Regierung nichts getan wird, um den oben erw�hnten Zeugen Jehovas in Deutschland Erleichterung zu gew�hren, dann wird Gottes Volk in anderen L�ndern, unter allen Nationen der Erde, mit der Ver�ffentlichung der Tatsachen �ber Deutschlands ungerechte Behandlung von Christen beginnen" (ebd., S. 148). Ein halbes Jahr sp�ter schloss sich eine noch h�rtere Drohung, an Hitlers Adresse gerichtet, an: "Sie und Ihre Regierung haben sich der schlimmsten Verfolgungen an Gottes geweihtem Volk in Deutschland schuldig gemacht und werden deshalb, bei verharrendem pharaonischen Trotzen, das Gericht des Allm�chtigen �ber sich bringen" (zit. nach D. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, 1993, 122).

1938 gilt als das Jahr, in dem Rutherford seine "Reformen" abgeschlossen hat:

"Das kongregationalistische Prinzip war endg�ltig �berwunden, der Einfluss der �ltesten beseitigt, die Organisation war straff �theokratisch` durchgebildet. Es wurde offiziell der Grundsatz angenommen, �dass die Gesellschaft der sichtbare Vertreter des Herrn auf Erden ist`. Der Zentralismus war nun perfekt" (H. Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit, o. J., 276).

"Die Theokratische Organisation gleicht einer riesigen Propagandamaschine, die so konstruiert ist, dass alle Energien einheitlich und rationell auf die �Verk�ndigung` konzentriert sind. Ein Rad greift ins andere, und alle R�der sind durch Transmissionen mit der Spitze verbunden, so dass sie sich drehen, wie die Spitze es will" (K. Hutten, Seher � Gr�bler � Enthusiasten, 1982, 114).

Doch all zu lange konnte sich Rutherford �ber seinen Erfolg nicht freuen. Am 8. Januar 1942 starb er im Alter von 72 Jahren an Dickdarmkrebs, und zwar in seinem Haus "Beth Sharim" ("Haus der F�rsten") in San Diego/Kalifornien, das er f�r die erwarteten Erzv�ter Abraham, Isaak und Jakob erworben hatte. Einige Jahre nach Rutherfords Tod hat die Wachtturm-Gesellschaft "Beth Sharim" verkauft. Rutherford hat 18 B�cher und 32 Brosch�ren geschrieben und dadurch die �berholten Schriften Russells "ersetzt". Die heutige Wachtturm-"Theologie" hat er wesentlich gepr�gt. Dennoch erging es ihm schlie�lich wie seinem Vorg�nger Russell:

Seine B�cher werden heute von der Wachtturm-Gesellschaft kaum noch gedruckt. Alle Ver�ffentlichungen, die freilich auf Rutherfords (und zum Teil auch Russells) Gedankengut aufbauen, erscheinen anonym.

Verantwortlich f�r diesen neuen Stil ist Rutherfords Nachfolger: Nathan Homer Knorr.

S. auch: Zeugen Jehovas; Wachtturm-Gesellschaft; Russell, Charles Taze; Knorr, Nathan Homer; Dreieinigkeit; Endzeit-Berechnungen; Franz, Frederick William; Jehova-Name; Leitende K�rperschaft; Loskaufopfer; Zwei-Klassen-System.

Lit.: L. Gassmann, Zeugen Jehovas, 2000.

Lothar Gassmann


Index

Etliche Texte sind auch in gedruckter Form erschienen in verschiedenen Handb�chern (je 144-200 Seiten, je 9,80 Euro):

1. Kleines Sekten-Handbuch
2. Kleines Kirchen-Handbuch
3. Kleines �kumene-Handbuch
4. Kleines Endzeit-Handbuch
5. Kleines Katholizismus-Handbuch
6. Kleines Anthroposophie-Handbuch
7. Kleines Zeugen Jehovas-Handbuch
8. Kleines Ideologien-Handbuch
9. Kleines Esoterik-Handbuch
10. Kleines Theologie-Handbuch

Weitere Handb�cher (�ber Theologie, Esoterik, u.a.) sind geplant. Informationen bei www.l-gassmann.de s